ifo-Bildungsbericht
Welche Maßnahmen gegen Bildungsungerechtigkeit helfen
Mit der ifo-Studie „Ungleiche Bildungschancen: Ein Blick in die Bundesländer“ vom Mai 2024 wird Deutschland zum x-ten Mal eine gravierende Bildungsungleichheit bescheinigt. Der genaue Blick in die Bundesländer zeigt jedoch auch Lösungen auf.
Das Bildungssystem verfolgt zwei zentrale Ziele: Gleich guten Zugang zu Bildung, unabhängig von der Herkunft und der sozialen Lage („Bildungsgerechtigkeit“) und die bestmögliche Förderung und Entfaltung des Potenzials der Kinder und Jugendlichen („Leistungsvermögen“). Die Untersuchung des ifo-Zentrums für Bildungsökonomik legt den Schwerpunkt auf das erste Ziel der ungleichen Bildungschancen und verwendet als Benachteiligungsmaß die Wahrscheinlichkeit, mit der „Kinder mit unterschiedlichen familiären Hintergründen ein Gymnasium besuchen“.
Warum der Gymnasialbesuch? Zum einen eröffnet der Bildungsabschluss „Abitur“ die meisten Bildungswege und mehr Chancen auf ein gutes Einkommen als andere Abschlüsse. Gut ist, dass die ifo-Expert*innen darauf hinweisen, dass Menschen mit Abitur im Durchschnitt monatlich netto 42 Prozent mehr verdienen als Menschen ohne Abitur! Dies zeigt nämlich in aller Klarheit, dass nicht-akademische Berufe eben doch drastisch schlechter bezahlt werden als akademische. Und das, obwohl während der Pandemie deutlich wurde, dass oft schlecht bezahlte Berufe gesellschaftlich hochgradig relevant sind (Pfleger*innen, im Einzelhandel Beschäftigte, ...). Da helfen auch allerlei Hinweise auf den angeblichen „Akademikerwahn“ nicht.
Zum anderen sind Bundesländervergleiche nur bei diesem Indikator möglich, weil nur dafür bundeseinheitliche Daten vorliegen. Die anderen Sek-I-Schularten und -bildungswege sind in den Ländern sehr unterschiedlich und nur unzureichend mit Daten hinterlegt.
Für die Studie wurden zwei Vergleichsgruppen gebildet: Kinder mit niedrigem (Gruppe I) und Kinder mit höherem sozioökonomischem Hintergrund (Gruppe II). Maßgeblich für die Gruppenbildung sind der formale Bildungsstand der Eltern und das Haushaltseinkommen. Diese Daten werden mit der Wahrscheinlichkeit des Gymnasialbesuchs in Beziehung gesetzt, woraus sich dann das Ausmaß der Chancengleichheit ergibt.
Ergebnisse
Kinder mit niedrigem sozioökonomischem Hintergrund haben in Deutschland eine Wahrscheinlichkeit von 26,7 Prozent, ein Gymnasium zu besuchen, bei Kindern aus besser gestellten Familien sind es 59,8 Prozent. In Gruppe I ist also die relative Chance weniger als halb so groß wie in Gruppe II (= Chancenverhältnis: 44,6 % (= 26,7 % / 59,8 %).). Vollständige Chancengleichheit wäre bei diesem Indikator bei 100 Prozent gegeben.
Der absolute Unterschied zwischen den beiden Gruppen beträgt in Deutschland -33,1 Prozentpunkte (Chancendifferenz (= 59,8 % - 26,7 %). Gäbe es keinerlei Benachteiligung, betrüge der Wert 0.
Schaut man diese Werte nach Bundesländern aufgeschlüsselt an, zeigen sich beträchtliche Unterschiede. Berlin, Brandenburg, Rheinland-Pfalz, das Saarland und Mecklenburg-Vorpommern weisen Chancenverhältnisse von über 50 Prozent auf, bei Bayern und Sachsen sind das 38,1 Prozent beziehungsweise 40,1 Prozent. „Das Chancenverhältnis ist im Bundesland mit dem höchsten Wert also mehr als 40 Prozent größer als im Bundesland mit dem niedrigsten Wert“, rechnet das ifo-Zentrum vor.
Man kann nun einwenden, dass die Daten zum Beispiel in Baden-Württemberg die Ungleichheit überzeichnen, weil alternative Wege zum Abitur, insbesondere über die beruflichen Gymnasien, stark genutzt werden. Diese tauchen in den Berechnungen des ifo-Zentrums nicht auf. Hierzu merken die Autor*innen an: „Zudem zeigt die Forschung (entgegen weit verbreiteter Annahmen), dass Kinder aus privilegierteren sozialen Gruppen die alternativen Wege zur Hochschulzugangsberechtigung sogar noch stärker nutzen als Kinder mit benachteiligtem Hintergrund, so dass die alternativen Wege die Ungleichheit der Bildungschancen sogar noch erhöhen.“
Gründe für die Unterschiede
Das Schulwesen ist wie kein anderer Politikbereich föderal geprägt. Deshalb ist es nicht nur zulässig, sondern geboten, deren Unterschieden auf den Grund zu gehen, um mögliche Ursachen zu identifizieren.
Um es kurz zu machen: Bei Zusammensetzung der Schülerschaft (vor allem Anteil benachteiligter Kinder), Migrationsanteil, Bildungsausgaben und Wirtschaftsleistung des Landes konnten allenfalls schwache Zusammenhänge zur Wahrscheinlichkeit des Gymnasialbesuchs festgestellt werden. Und: Auch die Analyse weiterer Merkmale der Ressourcenausstattung des Bildungswesens wie beispielsweise Ausgaben für Grundschulen, Klassengrößen oder Schüler-Lehrkraft-Verhältnisse ergeben keine Belege für systematische Zusammenhänge mit Unterschieden in den Bildungschancen zwischen den Bundesländern. „Die Unterschiede lassen sich durch die sozialen Faktoren nicht wegerklären“, sagte der Forscher Florian Schoner bei der Vorstellung der Studie im Rahmen einer Pressekonferenz.
Hier ist zu beachten: Das gilt nur bei diesen Maßzahlen! Dass Geld keine Rolle spielt, wird niemand behaupten. Es ist aber keine hinreichende Bedingung für die Verringerung der Benachteiligung.
Handlungsmöglichkeiten
Mit allgemeinen Hinweisen und konkreten Praxisbeispielen zeigen die Forscher*innen auf, was man tun kann, ja muss. Zum Beispiel: die frühkindlichen Bildungsangebote für benachteiligte Kinder ausbauen (Bremen), Familien benachteiligter Kinder bei der Erziehung unterstützen (Stadt Herford), die Aufteilung auf unterschiedliche weiterführende Schulen verschieben (Berlin, Brandenburg), Mentoring-Programme für Jugendliche (Rock your life) fördern, die Schulstruktur vereinfachen und auf zwei Schularten mit Oberstufe reduzieren (Saarland), Schulleitungen im Brennpunkt stärken (Programm impact).
Diese Beispiele zeigen, dass strukturelle und individuelle Ansätze kein Entweder-oder sind. Die Schulstruktur fünf Jahre lang zu ignorieren, wie dies im aktuellen Koalitionsvertrag der Landesregierung in Baden-Württemberg zu lesen ist, war und ist keine gute Idee. Die Leistungen und die Chancengleichheit haben sich wohl auch deshalb nicht verbessert.
Bei der Frage, welche strukturellen Veränderungen angegangen werden müssen, geben die Forscher um Ludger Wößmann glasklare Antworten, bei denen sie sich mit dem Gros der Bildungsforschung auch einig sind: Wir brauchen keine Vielfalt von allerlei Schulverbünden oder noch mehr Wege zum Abitur. Wir brauchen eine einfache Zwei-Wege-Schulstruktur, die offene Bildungsbiografien zulässt. Und wir brauchen eine Fokussierung der Mittel auf die Benachteiligten! Das verbessert nicht nur die individuellen Bildungschancen und hilft der heimischen Wirtschaft, es ist letztlich auch ein Gebot der Demokratie.