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Feststellungsverfahren sonderpädagogischer Bildungsanspruch

Wenn Kinder ohne Hilfe bleiben

Hilfen für Kinder mit Einschränkungen oder Behinderungen gibt es nur, wenn die Staatlichen Schulämter einen sonderpädagogischen Bildungsanspruch festgestellt haben. Das kann lange dauern. Zu lange, wie das Beispiel mit Emil zeigt.

Lehrer*in mit Schüler*innen
Nur Schüler*innen mit festgestelltem sonderpädagogischen Bildungsanspruch bekommen Hilfe. Anträge dafür dauern zu lange. (Foto: PeopleImages / iStock)

Emil sitzt draußen vor seinem überfüllten Klassenzimmer. Er hatte es einfach nicht mehr ausgehalten. Schon wieder hatte er die Aufgabe an der Tafel falsch gelöst. Woher sollte er das alles wissen? In seiner Verzweiflung schleuderte er den Tisch nach vorne, das Mäppchen und sein Matheheft flogen durch den Raum. Noch bevor er den Stuhl werfen konnte, hielten ihn seine Mitschüler zurück.

Eigentlich bräuchte Emil dringend eine kleinere Lerngruppe, eine klar strukturierte Umgebung, mehr Verlässlichkeit und möglicherweise einen angepassten Lehrplan. Doch damit er diese Unterstützung erhält, muss zunächst festgestellt werden, ob er einen Anspruch auf ein sonderpädagogisches Bildungsangebot hat. Selbst dann wäre es fraglich, ob genügend qualifiziertes Fachpersonal zur Verfügung steht, um ihn zu unterstützen.

Was passiert mit Kindern wie Emil, wenn sie ohne ausreichende Unterstützung in der Klasse „mitlaufen“?

Zahlen sprechen für sich

Im Schuljahr 2023 /2024 gab es in Baden-Württemberg an den SBBZ und in inklusiven Bildungsangeboten knapp 64.000 Schüler*innen mit sonderpädagogischem Bildungsanspruch – ein Anstieg von über 20 Prozent seit 2014. Im gleichen Zeitraum stieg die Zahl der Stellen in der Sonderpädagogik, die tatsächlich im Unterricht angekommen sind, jedoch um weniger als 300 – ein Plus von knapp vier Prozent.

Das Problem ist noch gravierender: Rund 14 Prozent der benötigten Stellen sind aktuell im Landeshaushalt nicht vorhanden. So können weder die SBBZ noch die inklusiven Bildungsangebote angemessen versorgt werden. Man spricht hier von einem strukturellen Defizit. Dazu kommt, dass die vorhandenen Stellen nicht mit ausgebildetem Personal besetzt werden können. Diese Lücke wird teilweise durch Lehrkräfte ohne Lehramtsausbildung überbrückt – im Schuljahr 2023/24 machten sie etwa zehn Prozent der Lehrenden aus. Trotz ihrer wichtigen Arbeit bietet die Landesregierung dieser Gruppe weder klare Aufstiegsmöglichkeiten noch eine Zertifizierung.

Politik mit halben Maßnahmen

Die Landesregierung unternimmt zwar Schritte wie die Einführung des Direkteinstiegs, den neuen Studienstandort Freiburg und die vorsichtige Qualifizierung von Personen ohne Lehramtsausbildung (PoL). Allerdings reichen diese Maßnahmen bei Weitem nicht aus, um den dramatischen Lehrkräftemangel zu beheben. Die GEW liefert der Politik regelmäßig Vorschläge für eine schnellere Lehrkräftegewinnung, bessere Qualifizierung und attraktivere Arbeitsbedingungen – am mangelnden Input liegt es also nicht.

Das Ergebnis: Emil und andere Kinder warten oft viel zu lange auf passende Förderangebote.

Hürden im Antragsprozess

Damit Emil gefördert werden kann, muss zunächst das Staatliche Schulamt (SSA) seinen sonderpädagogischen Bildungsanspruch feststellen. Eltern oder Schulen können dafür einen Antrag stellen. Auf den Homepages der 21 Schulämter in Baden-Württemberg finden sich dazu Informationen – oft eher technische Hinweise oder umfangreiche Checklisten.

Die Schulämter stehen selbst unter Druck. Viele sind chronisch unterbesetzt. Außerdem gibt es Druck des Kultusministeriums, nicht zu viele sonderpädagogische Bildungsansprüche festzustellen. Manche SSA bauen deshalb zusätzliche bürokratische Hürden in das Antragsverfahren ein. Aber wenn man den Eltern oder Schulen den Weg zum Antrag künstlich erschwert, ändert das an der Zahl der Schüler*innen, die die Unterstützung brauchen, nichts! Sie sitzen ohne sonderpädagogischen Bildungsanspruch trotzdem in den Klassenzimmern.

Teilweise warten die Sonderschullehrkräfte, die die Gutachten erstellen sollen, monatelang auf den Auftrag der SSÄ. Teilweise wirken Lehrkräfte und andere Beteiligte, die Eltern beraten, über Jahre daraufhin, dass sich Eltern ernsthaft mit der (drohenden) Behinderung des eigenen Kindes auseinandersetzen. Wenn dann der Antrag oder die Feststellung des Bildungsanspruchs vom SSA abgelehnt werden, bekommt das Kind die dringend notwendige Unterstützung nicht. Bei klaren Fällen sollten die Schulämter den sonderpädagogischen Bildungsanspruch über ein verkürztes Verfahren feststellen. So würde auch den Menschen Vertrauen entgegengebracht, die mit dem Kind arbeiten.

GEW fordert klare Datenlage

Solange die Landesregierung die Ressourcen in der Sonderpädagogik nicht ausbaut, ist häufig trotz eines diagnostizierten sonderpädagogischen Förderbedarfs kein angemessenes Angebot möglich.

Die GEW fordert, dass für jedes Kind, das sonderpädagogische Förderung benötigt, dieser Anspruch auch festgestellt wird. Nur so kann die allgemeine Schule vom Bildungsplan abweichende, zieldifferente Angebote machen und die Schüler*innen auch entsprechend benoten. Außerdem ist nur mit einer klaren Datenlage eine langfristige Planung des Bedarfs an Sonderpädagog*innen möglich.

Was braucht Emil wirklich?

Für die GEW ist klar: Die schlechte personelle Ausstattung der Schulverwaltung und die dramatische Lage in der Sonderpädagogik dürfen nicht dazu führen, dass Hürden im Antragsprozess aufgebaut werden. Solange Unterstützung ausschließlich nach Feststellung eines sonderpädagogischen Bildungsanspruchs möglich ist, muss dieser ohne Verzögerung erfolgen. Jede zusätzliche Hürde im Antragsprozess schadet vor allem den schwächsten Schüler*innen – und damit auch Emil.

Die Landesregierung ist in der Pflicht, diese Missstände schnell und entschlossen anzugehen.

Kontakt
Ruben Ell
Vorsitzender Fachgruppe Sonderpädagogische Berufe