Entwicklung von Schulbüchern
Wie verlässlich Schulbücher sind
Sind Schulbücher ein Auslaufmodell? Wer sich auf der Didacta Mitte Februar in Stuttgart umgeschaut hat, bekommt einen anderen Eindruck. Doch wie entstehen die Bücher? Werden sie ihrer Bedeutung für Schulen gerecht? Eine Spurensuche.
Der Klettverlag ist einer der größten Schulbuchverlage Deutschlands mit Hauptsitz in Stuttgart. Die Geschäftsstelle des Verlags ist nur ein Katzensprung von der GEW-Landesgeschäftsstelle entfernt. So liegt es nahe, sich dort exemplarisch für alle Schulbuchverlage über Schulbuchentstehung und -entwicklung zu erkundigen. Ansprechpartner*in sollte jemand sein, der oder die für Schulbücher verantwortlich ist, deren Inhalte sensibel und umstritten sein können. Das trifft zu für den Programmbereich Gesellschaftswissenschaften zu, dessen Leiter beim Verlag Armin Häberle ist.
„Nimm ein Schulbuch und du kommst sicher durch das Schuljahr. Mit dem Buch hast du den Lehrplan sicher abgedeckt.“ Von dieser Maxime dürfen nach Häberles Meinung alle Lehrkräfte ausgehen. Wobei es kein gedrucktes Buch sein müsse. Für digitale Verlagsangebote, zum Beispiel E-Books, gelte dasselbe. Er betont, dass dieser Anspruch nicht nur für Klett gelte, das sei das Ziel aller Verlage.
Wobei nicht nur Verlage Unterrichtsmaterial zur Verfügung stellen. Ungezähltes Material steht auf Online-Portalen. Auch Lehrkräfte stellen außerhalb ihrer eigenen Schule Unterrichtseinheiten online zur Verfügung. „Dort gibt es sicherlich sehr gute Impulse und gutes Material für alle Themen. Sie bleiben aber Stückwerk. Am Ende muss jede Lehrkraft die Materialien zusammensuchen und selbst Sorge tragen, ob damit alle Qualitätskriterien und der Lehrplan erfüllt werden“, wendet der Schulbuchmacher ein. Häberle bezweifelt, dass das eine effiziente Arbeitsweise ist. Schulbücher in Baden-Württemberg müssen schließlich ein Zulassungsverfahren durchlaufen. Das ZSL prüft nach vielen Kriterien.
Aber auch genehmigte Schulbücher entbinden Lehrkräfte nicht davon, genau hinzuschauen. Sie tragen nach dem baden-württembergischen Schulgesetz die pädagogische Verantwortung für die Bildung und Erziehung der Schüler*innen. Im GEW-Jahrbuch kann man nachlesen: „Lehrkräfte müssen unter anderem prüfen, ob ein zugelassenes Schulbuch dem Entwicklungsstand der Klasse angemessen ist, ob die angestrebten Unterrichtsziele erreicht werden können oder ob nicht andere Lernmittel besser geeignet sind.“ Wenn sich die Fachkonferenz an einer Schule aber auf ein Schulbuch einigt, sind Lehrkräfte verpflichtet, dieses Buch als hauptsächliches Arbeitsmittel einzusetzen.
Wenn das Buch also eine zentrale Rolle im Unterricht spielt, dann sollten sich Lehrkräfte auch darauf verlassen können. „Das können sie“, versichert der Programmleiter von Klett. Dann schildert er, wie die Redaktionen in seinem Verlag arbeiten.
Wie ein Schulbuch entwickelt wird
Die Basis sind die Lehr- und Bildungspläne der Bundesländer. Für ein neues Lernmittel, das nicht immer ein Schulbuch sein muss, erstellt die Redaktion zunächst ein Konzept. Dabei werden die neuesten Entwicklungen der jeweiligen Fachdidaktiken berücksichtigt. Heutzutage werde viel Wert auf Lösungsorientierung gelegt. Schüler*innen sollen anhand von Problemstellungen zu Handlungen ermutigt werden, erläutert Häberle. Zur didaktischen Konzeptentwicklung gehören auch regelmäßig Umfragen unter Lehrkräften und Gespräche mit Partnern wie etwa Fachdidaktiker*innen, Forschungsinstitutionen wie dem Georg-Eckert-Institut oder Stiftungen und Verbände.
Danach sucht der Verlag nach Schulbuchautor*innen. Meist sind Schulbuchautor*innen Lehrkräfte. Der Verlag hat ein Netzwerk an Autor*innen, sucht aber immer wieder neue Lehrkräfte, die Interesse an der Arbeit haben. „Lehrkräfte, die als Autor*innen für uns arbeiten, brauchen eine hohe intrinsische Motivation. Hauptmotiv sollte sein, sich auch zum Nutzen vieler anderer Lehrkräfte immer wieder auf Neues einzulassen“, erklärt Häberle. Dahinter stecke oft ein erheblicher Aufwand. Groß Geld verdienen sei nicht gesichert und sollte nicht im Vordergrund stehen. Über Autorentagungen können sich Lehrkräfte austauschen. Die wichtigste und schwierigste Aufgabe der Autor*innen sei dabei die didaktische Reduktion. Komplexe Themen so weit wie möglich zu reduzieren, ohne dass der Kern des Themas verlorengeht. Dass die neuesten wissenschaftlichen und didaktischen Erkenntnisse zum Tragen kämen, liege in der Verantwortung des Verlags.
Häberle ist für Bildungsmedien der Gesellschaftswissenschaften zuständig. Ihm ist wichtig, dass in den Lehrwerken die politische Einstellung und Meinung der Autor*innen nicht durchdringen. Die Themen müssen multiperspektivisch aufgearbeitet werden, ihre Umsetzung den Beutelsbacher Konsens beachten und es den Schüler*innen ermöglichen, sich zu mündigen Bürger*innen zu entwickeln. „Wir bekommen auch immer wieder kritisches Feedback“, erzählt er. Erst neulich sei ihnen vorgeworfen worden, in Geografiebüchern wie Terra würde die ökologische Landwirtschaft gewichtiger als die konventionelle dargestellt, obwohl sie nur einen relativ kleinen Teil der Bevölkerung ernähre. Während der Bauernproteste im Winter 2023/2024 beschwerten sich Vertreter*innen der Landwirtschaft bei der Landesregierung, dass ihr Berufsstand in Schulbüchern generell zu schlecht wegkomme. Daraufhin ließ Baden-Württemberg seine Schulbücher überprüfen, ob Stereotype und abwertende Aussagen über Bauern und Landwirtschaft darin vorkommen. In drei Werken von drei Verlagen seien missverständliche Textstellen eruiert worden, berichtet Claudia Hartmann-Kurz, die beim ZSL für die Schulbuchzulassung verantwortlich ist. „Auch wenn im Kontext gesehen – inklusive Bildern und Fragen –, es nichts zu beanstanden gab, werden die Stellen in der nächsten Auflage verändert“, erläutert Hartmann-Kurz. Ziel sei immer, niemanden zu diskreditieren.
Verschiedene Interessengruppen
Manchmal ist auch erstaunlich, wofür Schulbücher alles verantwortlich sein sollen. In einem Artikel auf Zeit-Online beschwert sich im Februar 2024 der Autor Alan Posener, ehemals Lehrer und Schulbuchautor, über die Darstellung von Wirtschaft in Schulbüchern. Er fragt: „Kann es sein, dass auch die Art, wie über Wirtschaft in den Schulen gesprochen wird, für die Krise mitverantwortlich ist?“ Und er zitiert eine Studie des Zentrums für ökonomische Bildung an der Universität in Siegen (Zöbis), die zu dem Ergebnis kommt, dass in deutschen Schulbüchern das Unternehmertum, der freie Markt, der freie Welthandel eher als Problemschaffer denn als Problemlöser dargestellt werde. Wobei Lobbypedia, ein Projekt von Lobbycontrol, darauf hinweist, dass die Zöbis eng mit wirtschaftsnahen Organisationen und neoliberalen Netzwerken verzahnt sei. Posener moniert auch, dass Schulbücher hauptsächlich von Lehrer*innen geschrieben würden. „Mithin von Menschen, die größtenteils vom Staat beschäftigt werden und keine Erfahrung als Unternehmer oder Managerin haben. Man tritt den Lehrenden auch nicht zu nahe, wenn man unterstellt, dass sie – gerade in den sozialpolitischen Fächern – politisch mehrheitlich links oder grün eingestellt sind und ihrem Arbeitgeber – allen negativen Erfahrungen zum Trotz – mehr vertrauen als den privaten Arbeitgebern.“ Zum Glück, kann man auch dazu sagen.
Das Leibniz-Institut für Bildungsmedien | Georg-Eckert-Institut (GEI) vergibt seit 2012 die Auszeichnung „Schulbuch des Jahres“. Mit der Preisverleihung 2024 wird der neue Name „Bildungsmedien des Jahres“ eingeführt. Die Umbenennung reagiert auf die zunehmende Vielfalt der Bildungsmedien in den Schulen und ihrer Formate. Im dreijährigen Turnus werden Bildungsmedien für die Grundschule, die Sekundarstufe I und die Sekundarstufe II von einer Fachjury begutachtet. Mit der Auszeichnung werden Autor*innen, Herausgeber*innen und Bildungsmedienverlage für die Erstellung innovativer Bildungsmedien gewürdigt. Der Preis steht unter der Schirmherrschaft der Kultusministerkonferenz.
„Es ist uns schon klar, dass wir nicht alle Interessen bedienen können, aber wir bemühen uns, die Themen gut abzuwägen“, betont der Programmbereichsleiter Häberle. Unterstützung holt sich der Verlag unter anderem beim Georg-Eckert-Institut (GEI). Das GEI Leibniz-Institut für Bildungsmedien dient nach eigenen Angaben Wissenschaftler*innen aus unterschiedlichen disziplinären Perspektiven, die sich mit schulischen Bildungsmedien beschäftigen, als Zentrum. Die Fachexpert*innen dort prüfen kritisch, wie der Verlag mit sensiblen Themen umgeht. „Wir suchen beim Thema Kolonialismus beispielsweise gezielt nach indigenen Quellen und achten bei Bildern darauf, dass kein imperialistischer Unterton mitschwingt. Die Herausforderung ist, die Themen zu behandeln, ohne alte Stereotypen weiterzutragen“, beschreibt Häberle das Bemühen des Verlags um diskriminierungsfreie und mehrperspektivische Darstellungen.
Ist es schwieriger geworden, einen Konsens zu finden? „Es wird hitziger debattiert“, beobachtet Häberle und der multiperspektivische Blick werde nicht immer geschätzt. Über Instagram oder Twitter (jetzt X) ernte man dann schnell einen Shitstorm. Oft gehe auch unter, dass Schulbücher zwar im Schnitt alle vier Jahre aktualisiert werden, teilweise aber bis zu 15 Jahren in den Schulen bleiben. Vor allem in den Nebenfächern werden Schulbücher nicht oft neu angeschafft. Da kann es passieren, dass Landkarten, die jahrelang niemand beachtet hat, plötzlich politisch brisant werden. So geschehen mit einer Karte, die abbildet, wo in der Ukraine russisch gesprochen wird. Die Karte ist deutlich älter als der Einmarsch der Russen in die Ukraine. Der Vorwurf, das sei russische Propaganda, steht trotzdem im Raum. Auch das Image von Personen kann sich schnell mal wandeln, aktuell bei der Klimaaktivistin Greta Thunberg oder dem Sänger Kayne West. „Es ist immer ein Balance-Akt, aktuell sein zu wollen, einen Bezug zur Lebensrealität der Schüler*innen herzustellen, und der Gefahr, dass sich das auch schnell wieder überholt“, erläutert Häberle.
Digitale Werke bevorzugen?
Wenn Bücher zu träge für Aktualisierung sind, könnten digitale Werke eine Lösung sein. Und hybride oder rein digitale Formate sind in allen Verlagen auch entstanden, zum Beispiel der eCourse beim Klettverlag für den rein digitalen Unterricht. Große Hoffnungen setzt Häberle auch auf die KI-Entwicklung. Und zwar eine KI, die nicht das undurchsichtige Weltwissen im Internet nutzt, sondern Unterrichtseinheiten aus den bestehenden Werken. Der Vorteil: Die Werke seien geprüft, die Informationen kuratiert, die Urheberrechte geklärt.
Bis jetzt haben Schulbücher überlebt. Was kommt, weiß niemand. „Zu oft ist für das Buch schon die Todesanzeige geschrieben worden“, findet Häberle. Wobei Unsicherheiten den Verlagen die Arbeit erschweren. Das betrifft auch die Änderungen, die sich mit dem neunjährigen Gymnasium ergeben. Im Moment wird kaum ein Gymnasium Bücher anschaffen. Wenn aber die Stundentafel und der Bildungsplan fürs neue G9 stehen, gibt es neue Impulse, die auch dem Buchmarkt nützen.
Ein bis drei Jahre dauert es, bis neue Werke druckreif sind. Das hängt davon ab, wie grundlegend die Änderungen sind und ob erst mal neue Autor*innen gefunden werden müssen. Den Zulassungsprozess mit dem ZSL bewertet Häberle als gut etablierten Prozess, auch wenn er Zeit brauche. Es gebe häufig auch gutes Feedback, das die Bücher besser mache, betont er. Der Verlagsvertreter versichert: „Wir haben ein ehrliches Interesse an guter Bildung in Deutschland.“ Ziel sei auch, Lehrkräfte zu entlasten. Wer wenig Zeit habe oder ein Fach fachfremd unterrichte, soll mit den Werken gut klarkommen, statt alles selbst zusammensuchen zu müssen. Klingt vernünftig.