Mehr als eine Million Schülerinnen und Schüler, Auszubildende und Studierende waren am 15. März 2019 weltweit auf der Straße – und nicht in der Schule, im Betrieb, an der Uni. In über 2.000 Städten, in 125 Ländern, auf allen Kontinenten haben sie zu einer konsequenten Klimapolitik aufgefordert. Zehn Tage zuvor hat sich Hans Dörr mit Nisha und Paul von „Fridays for Future Stuttgart“ unterhalten.
Nisha Toussaint-Teachout, 19, hat die Schule schon hinter sich. Paul Epple, 20, macht eine Ausbildung. Die beiden sorgen sich um ihre Zukunft. Nicht erst seit heute, sondern schon seit Jahren. Das Ignorieren der natürlichen Grenzen des Planeten durch einen ungebremsten Ressourcenverbrauch und die hemmungslose Nutzung fossiler Energien mit der Folge weltweit steigender Emission von Treibhausgasen: diese großen Zukunftsfragen begleiten sie seit ihrer Kindheit. Die aus ihrer Sicht völlig unzureichenden Antworten von Politik und Gesellschaft auch.
Seit dem UN-Umweltgipfel 1992 in Rio und der Nachfolgekonferenz in Berlin 1995 hat jedes Jahr ein Klimagipfel stattgefunden. Das Kyoto-Protokoll von 1997 sollte den Einstieg in die Treibhausgasreduktion bringen. Auf die Verlängerung der Kyoto-Vereinbarung 2012 mit Kyoto II folgte 2015 die Pariser Klimaschutzvereinbarung mit der Einigung auf das 1,5-Grad-Ziel. Dass diese Vereinbarung alle 195 Staaten unterschrieben haben, schien ein großer Erfolg zu sein. Das Problem: Jedes Land entscheidet selbst, ob, wann und wie viele Emissionen es reduziert. Bei der Verfehlung des Ziels gibt es keinerlei Sanktionen. Außerdem gilt der Vertrag erst ab 2020. Die dringend notwendige schnelle und drastische Emissionsreduktion findet folglich nicht statt.
2017 kam der Ausstieg der USA aus dem Pariser Abkommen und der Jahrhundertsommer 2018 – nach 2003 der zweitheißeste Sommer seit Beginn regelmäßiger Messungen im Jahr 1881. Und es kam Greta Thunberg. Am 20. August 2018, dem ersten Schultag nach den Ferien, setzte sie sich mit einem Schild mit der Aufschrift „Skolstrejk för klimatet“ vor den Schwedischen Reichstag in Stockholm – alleine, täglich, bis zur Reichstagswahl am 9. September. Ab da bestreikte sie die Schule nur noch einmal pro Woche, am Freitag.
Gretas Beispiel folgten bald Schülerinnen und Schüler in anderen schwedischen Kommunen und in anderen Ländern und Kontinenten. Auch in Deutschland organisierten sich an vielen Orten Jugendliche. Nisha und Paul aus Stuttgart waren dabei. „Wir haben von Greta und ihrem Streik gehört und dachten, das können wir auch“, erzählen sie. „Zuerst waren wir nur wenige, aber von Woche zu Woche haben sich mehr und mehr dem Protest angeschlossen“, ergänzt Paul.
Die Bewegung vergrößert sich
Am 18. Januar 2019 demonstrieren schon ein paar hundert Jugendliche in Stuttgart – während der Unterrichtszeit. Bundesweit sind es an diesem Tag über 30.000. Dass die Mobilisierung kein Selbstläufer ist, deuten die Web-Redakteure von „Fridays for Future“ an: „An einigen der 57 Aktionsorte in Deutschland machte es die Rechtslage schwierig, viele Menschen zum Streiken zu bewegen.“
Wenn keine Beurlaubung durch die Schule vorliegt, ist das Fernbleiben vom Unterricht in Baden-Württemberg ein Verstoß gegen § 72 Schulgesetz Abs. 3 (Schulpflicht) und gegen § 2 der Schulbesuchsverordnung. Die Verletzung der Schulpflicht gilt als Ordnungswidrigkeit und kann mit einer Geldbuße geahndet werden. „In Stuttgart gab es“, sagten Nisha und Paul, „bisher keine Probleme mit der Anmeldung der Kundgebungen.“ Die beiden sind sich aber sicher, „sollte es Gegendruck geben, etwa mit Sanktionen für Schülerinnen und Schüler, wird das die Bewegung nicht bremsen. Im Gegenteil.“
Am 25. Januar 2019 tagte die Kohlekommission in Berlin. Vor dem Kanzleramt demonstrierten mehr als 10.000 Schüler/innen, Studenten/innen und Azubis. Sie skandierten: „Wir sind hier, wir sind laut, weil ihr uns die Zukunft klaut.“ Ein weiterer Höhepunkt war der „internationale Protesttag“ am 15. März 2019, an dem nach Angaben von „Fridays for Future“ allein in Deutschland über 300.000 Schüler/innen und Studierende aus über 220 Orten Schule und Uni „schwänzten“ und stattdessen demonstrierten.
Spiegel-Redakteur Holger Dambeck titelte am 22. Februar 2019: „Mehrheit unterstützt Schülerstreiks für Klimaschutz“. Im Auftrag des Spiegels hatte das Umfrageinstitut Civey 7.500 Internetnutzerinnen und -nutzer gefragt: „Sind die Schülerstreiks für Klimaschutz unterstützenswert?“ Das Votum ist gespalten. Die Mehrheit (51 Prozent) erklärt, dass sie die Protestaktion unterstützen. 42 Prozent sprechen sich dagegen aus. Je jünger die Befragten sind, umso größer ist die Unterstützung. In der Altersgruppe unter 30 liegt die Zustimmung bei 64 Prozent – die Ablehnung bei nur 31 Prozent.
Die „Zeit“ wartet in der Ausgabe vom 31. Januar 2019 mit einem weit verbreiteten Foto von Greta Thunberg auf. Es zeigt Greta, alleine mit ihrem Pappschild vor dem Parlament in Stockholm: „Dieses Mädchen fordert die Welt heraus“. Am selben Tag widmet der „Stern“ das Titelthema der neuen Jugendbewegung. Die Überschrift lautet: „Wir verändern die Welt! Warum Jugendliche rund um die Erde für eine bessere Zukunft kämpfen“. Die „Taz“ vom 23. und 24. Februar 2019 publiziert unter der Überschrift „Aufgeben ist keine Option“ einen Beitrag von Bernhard Pötter. Er schreibt: „Der Aufstand der Jugend für den Klimaschutz ist ein kleines Wunder. Nun muss daraus eine politische Bewegung werden.“ Da können Nisha und Paul zustimmen: „Wir haben basisdemokratische Strukturen geschaffen und bauen die aus – auf regionaler und überregionaler Ebene.“ Nisha berichtet, dass sie am Wochenende bei einem bundesweiten Treffen vieler Gruppen in Berlin gewesen seien.
Die beiden rechnen damit, dass die Schärfe der Auseinandersetzung zunimmt, wenn Politik und Erwachsenen-Gesellschaft bemerken, dass der Protest keine Eintagsfliege ist und sich nicht mit Verständnis- und Sympathieerklärungen besänftigen lässt. Sie begrüßen den moderaten Brief der Kultusministerin Susanne Eisenmann an die Schulleitungen. Sie finden es gut, dass die Ministerin den Schulen nahelegt, „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ sehr ernst zu nehmen. Das beantworte aber die Frage nicht, „warum für eine Zukunft lernen, wenn wir keine Zukunft haben.“ Und es ersetze den zivilen Ungehorsam nicht. Erst die Regelverletzung des Schule-Schwänzens habe der Politik und der Gesellschaft gezeigt, wie ernst die Jugendlichen die Bedrohung ihrer Zukunft nehmen würden.
Auf die Frage nach der Offenheit für die Zusammenarbeit mit anderen Akteurinnen und Akteuren der Zivilgesellschaft antworten Nisha und Paul: „Wir kooperieren schon jetzt mit einigen Initiativen. Wenn wir uns gegenseitig unterstützen und gleiche Ziele haben, ist das für alle vorteilhaft. Allerdings wollen wir uns nicht vereinnahmen oder ausnutzen lassen.“
Schulleitungen, Lehrkräfte und GEW im Zwiespalt
Viele Schulleitungen und Lehrkräfte sind im Zwiespalt: Einerseits halten sie das Engagement der Jugendlichen und deren Ziele für gut und wichtig, andererseits haben sie einen Bildungsauftrag und müssen dafür sorgen, dass geltendes Recht eingehalten wird. Kurzfristig kann der Vorschlag von der GEW-Landesvorsitzenden Doro Moritz eine Lösung sein: Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer an den Demos könnten danach in der unterrichtsfreien Zeit ein Thema aus dem Klimawandel aufarbeiten und ihren Mitschülerinnen und -schülern im Unterricht vermitteln. Zudem müsse gesichert werden, dass die Kinder und Jugendlichen den versäumten Stoff nachholen.
Mittelfristig allerdings müssen Politik und Gesellschaft mit sehr entschiedenen Schritten zur Bekämpfung der Treibhausgasemissionen sorgen. Dann können die Jugendlichen freitags wieder beruhigter zur Schule gehen. Für das Gelingen der sozial-ökologischen Transformation tragen vor allem die Erwachsenen eine große Verantwortung.