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Solidarität mit verfolgten Kolleg/innen in der Türkei - Für Demokratie und Gewerkschaftsrechte -

Unter diesem Motto fand am 14.02.17 im Gewerkschaftshaus eine nicht ganz gewöhnliche Veranstaltung von GEW, DGB, Ver.di und IG Metall Freiburg statt. Die türkisch-kurdische Gewerkschafterin Sakine Esen Yilmaz war im Rahmen einer Vortragsreise über die politische Situation in der Türkei, die sie durch ganz Deutschland und Baden-Württemberg führt, auch nach Freiburg eingeladen worden.

Begleitet wurde sie dabei von Süleyman Ates, Mitglied im Leitungsteam des GEW-Bundesausschusses für Migration, Diversity und Antidiskriminierung. Ebenfalls in Freiburg mit dabei: Zeynep Akay, kurdisch stämmige Dolmetscherin aus Teningen.

Kollegin Yilmaz ist Lehrerin und war bis vor ihrer Flucht Generalsekretärin der Bildungsgewerkschaft Egitim Sen, mit der die GEW eng kooperiert und die in der Türkei ca. 100.000 PädagogInnen organisiert. Davor war sie mehrere Jahre  als Frauensekretärin in der Gewerkschaft tätig. Engagiert setzte sie sich in ihrer Heimat insbesondere für mehr Bildungschancen für Mädchen, für kurdischen muttersprachlichen Unterricht kurdischer Schüler/innen, für die Weiterführung des eingestellten Friedensprozesses mit den KurdInnen und für gewerkschaftliche demokratische Rechte ein. Wie so viele Oppositionelle wurde sie deswegen auch bereits vor dem Putschversuch 2016 unter Druck gesetzt und sowohl 2009 als auch 2012 ohne Rechtsgrundlage verhaftet. Mit der Unterstützung internationaler Solidarität kam sie zunächst frei, erfuhr aber im April letzten Jahres, dass ein Urteil gegen sie rechtskräftig wurde. Da es noch 3 weitere Urteile gab, musste sie mit insgesamt 22 Jahren Haft rechnen und tauchte unter.

Konkret wird ihr vorgeworfen, dass sie mit ihrer Teilnahme auf Friedenskundgebungen gegen „Demonstrationsrechte“ verstoßen habe und sie mit ihrer Forderung nach muttersprachlichem Unterricht für die kurdische Bevölkerung eine terroristische Vereinigung, die PKK, unterstützen würde. Mit dem gleichen Vorwurf sieht sich die gesamte Gewerkschaft Egitim Sen konfrontiert. Unter den ca. 70.000 Lehrer/innen, die der Staat im Zuge der Säuberungswelle nach dem Putschversuch suspendierte, waren rund 13.000 Egitim Sen-Mitglieder betroffen. 30.000 Diplome türkischer und kurdischer Lehrkräfte wurden kurzerhand für ungültig erklärt. Sakine betonte aber, dass auch andere Gewerkschaftsmitglieder wie z. B. von KESK (vergleichbar Ver.di) entlassen wurden.

Die Kollegin hielt sich vor ihrer Flucht einige Monate in der Türkei versteckt in der Hoffnung auf eine Besserung der politischen Situation. Das Gegenteil trat aber ein: Der gescheiterte Militärputsch vom 15.07.16 diente als Vorwand, um im Zuge des Ausnahmezustands per Dekret viele kritisch denkende Gewerkschafter/innen und Oppositionelle aus ihren Jobs zu entfernen oder sogar zu verhaften. Sakine Yilmaz sah sich gezwungen nach Deutschland zu fliehen, obwohl sie ihr Land nicht verlassen wollte. Seitdem lebt sie hier als Flüchtling und hat einen Asylantrag gestellt.

In der Türkei herrscht derweil eine Atmosphäre der Angst, viele Menschen sind aufgrund der Repressionen völlig eingeschüchtert, der Staat betreibt eine Hexenjagd auf kritische Köpfe. Nicht wenige Mitglieder der türkischen Lehrergewerkschaft Egitim Sen kündigten sogar ihre Mitgliedschaft aus Angst vor Repressalien.

Besonders schlimm ist die Situation in den kurdischen Gebieten: Als dort während des Ausnahmezustands 12.000 Lehrer/innen entlassen wurden, gingen jedoch viele Eltern und Schüler/innen auf die Straße, um dagegen zu protestieren, Eltern schickten ihre Kinder nicht mehr in die Schule. Diese Solidarität mit den entlassenen Kolleg/innen bewirkte, dass es zu Wiedereinstellungen kam. Aber lediglich mit befristeten und prekären Beschäftigungsverhältnissen und mit wesentlich schlechterem Gehalt. Zurzeit entlassen die türkischen Behörden die Kolleg/innen nicht mehr massenhaft, sondern immer wieder einzelne. Sie überprüfen ständig die Personalakten und die politische Gesinnung. So gibt es besonders im Osten der Türkei seit 2 Jahren an vielen Orten weniger Unterricht, viele Schulen wurden geschlossen und stattdessen Polizeistationen oder Gebetsräume eingerichtet. „Die AKP interessiert sich nicht dafür, ob kurdische Schüler/innen genügend Unterricht erhalten“ (Sakine Yilmaz).

Die AKP ist dabei, eine „Parallelgesellschaft“ aufzubauen, eigene Gewerkschaften zu gründen und Lehrer/innen, die Parteimitglieder oder Sympathisanten sind, schnell zu befördern. Viele Rektoren sind AKP-Mitglieder.  Der gesamte Bildungsbereich wird umgestaltet, Lehrpläne, -Inhalte und Bücher werden im Sinne der religiösen und nationalistischen Ideologie umgeschrieben, um im Unterricht Einfluss auf die Kinder zu nehmen. Zum Beispiel wurde bereits die Evolutionstheorie aus dem Biologieunterricht komplett gestrichen, Islamkunde soll künftig Vorrang haben vor Physik- und naturwissenschaftlichem Unterricht. Jungen und Mädchen sollen zukünftig getrennt unterrichtet werden. Außerdem soll die kurdische Bevölkerung assimiliert werden.

Auf der Veranstaltung verdeutlichte Süleyman Ates anhand eines Beispiels, dass der „lange Arm Ankaras“ bis in deutsche Schulen reichen soll. Türkische Konsulate in NRW setzten Eltern – und Lehrervereine unter Druck, diejenigen Lehrer/innen zu melden, die Kritik an der Türkei oder an Erdogan üben. Die Gesinnungsschnüffelei betrifft also nicht nur Moscheen und Imame, sondern unabhängige Kolleg/innen sollen auch im Bildungsbereich eingeschüchtert werden. In Baden-Württemberg werden Kinder mit türkischen oder kurdischen Wurzeln von sogenannten „Konsulatslehrer/innen“ unterrichtet, das sind von der Türkei entsandte Staatsbeamte. Es stieß auf vehemente Kritik, dass die Lehrbücher und Lehrpläne von den hiesigen Schulbehörden nicht kontrolliert werden. Die Teilnehmer/innen der Veranstaltung forderten einen sofortigen Stopp der Einflussnahme Erdogans auf deutsche Schulen. Hier muss die GEW Druck ausüben.

Wichtig für die verfolgten Kolleg/innen in der Türkei ist es, dass sie mit unserer direkten Solidarität und Unterstützung rechnen können. Um diese zum Ausdruck zu bringen, wurden von den Anwesenden und Sakine Yilmaz verschiedene Möglichkeiten vorgeschlagen:

- Stopp der deutschen Waffenexporte in die Türkei, die gegen die kurdische Bevölkerung eingesetzt werden.

- Gespräche mit Abgeordneten oder Bürgermeister/innen vor Ort, um Solidaritätspatenschaften mit inhaftierten Abgeordneten oder entlassenen kommunalen Vertreter/innen zu gründen.

- Internationale Unterstützung der Oppositionellen auch in Form von Protestbriefen oder –Karten.

- Delegationen in die Türkei, um dort über Menschenrechte zu sprechen.

Die Forderung nach internationalen Wahlbeobachter/innen war Sakine Yilmaz besonders wichtig: Am 16.04.17 wird in der Türkei über ein Referendum abgestimmt, das entscheidet, ob dort zukünftig ein autoritäres Präsidialsystem mit einem noch größeren Machtzuwachs für Erdogan und damit praktisch eine Diktatur herrschen wird. Inzwischen gibt es eine starke Bewegung für ein „Hayir!“ („Nein!“)  Diese Kampagne sollte von uns unterstützt werden.

Auf der Freiburger Veranstaltung wurden zur direkten und praktischen Unterstützung spontan 449,40 € für die entlassenen Kolleg/innen in der Türkei gespendet und Fotos mit Protestparolen auf Plakaten an die sozialen Netzwerke in der Türkei gepostet.

Sakine Yilmaz betonte zum Ende der Veranstaltung, dass sie und ihre Mitstreiter/innen ihren Kampf und ihre Hoffnung auf einen Wandel hin zu Meinungsfreiheit und Demokratisierung nicht aufgeben werden.

Dieser Mut verdient unsere Unterstützung und Anerkennung.

 

Bericht: Claudia Meissner, GEW Freiburg