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Eine Realschule auf dem Weg zur Gemeinschaftsschule

10. Dezember 2014 - Schwäbische Zeitung - Barbara Sohler

RAVENSBURG - Sandra Vöhringer leitet eine Gemeinschaftsschule in Schwieberdingen. Über ihre Erfahrungen berichtete sie im Ravensburger Kornhaussaal.
"Wenn ein Arzt heute noch genauso operiert wie vor 30 Jahren, dann geht der Patient doch vermutlich auch lieber zu einem Kollegen, der nach heutigem Stand der Wissenschaft arbeitet", stellt Sandra Vöhringer zu Beginn ihres Vortrages klar. Nun ist die auskunftsfreudige Rektorin der Glemstal-Gemeinschaftsschule nicht nach Ravensburg gekommen, um über veraltete Medizin zu sprechen.
Der Vergleich allerdings sitzt. So zumindest empfinden es die Befürworter der Gemeinschaftsschule. Mehr als 50 Menschen sind der Einladung des Ravensburger Ortsverbandes der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft in den Kornhaussaal gefolgt. Die meisten davon sind Lehrer.
Sandra Vöhringer hat vor knapp zwei Jahren mit ihrer Realschule in Schwieberdingen-Hemmingen gewagt, was sich bisher nur 22 Realschulen im Land getraut haben: Sie hat ihre Realschule -"mit hervorragendem Ruf", wie Vöhringer betont - zur Gemeinschaftsschule umgemünzt, erweitert, modifiziert. Was ausschließlich dank ihres 48-köpfigen, zum Gutteil hoch engagierten Kollegiums gelungen sei, so Vöhringer. "Und glauben Sie mir: Mein Kollegium war sehr kritisch. Aber konstruktiv kritisch", ergänzt sie. Der allgegenwärtigen Angst "Bleiben uns die guten Schüler weg?" und dem Zweifel "War denn alles, was wir bisher gemacht haben, so schlecht?" hat die Schulleiterin quasi Paroli geboten, indem sie alle Kollegen in die Entwicklung einbezogen hat. Sie halte es noch heute so, dass auch die weniger euphorischen Kollegen Teil der Gemeinschaftsschule sind. "Und sei es nur in der Mittagsfreizeit."
Was Vöhringer und der neuen Ausrichtung zur GMS recht geben sollte: Kein Mitglied ihres Kollegiums hat einen Versetzungsantrag gestellt. Und die Neuanmeldungen seien nicht nur stabil geblieben, sondern haben sich von 62 sogar auf 93 Schüler erhöht. Mit einem Drittel Gymnasialkindern, wie Vöhringer betont. Schließlich habe sie auch sofort beschlossen, den Schritt hin zur Gemeinschaftsschule nur zu wagen, wenn sie eine gymnasiale Oberstufe anbieten könne.
Das pädagogische Konzept der Glemstal-Gemeinschaftsschule basiert auf einem Ganztagsbetrieb, in dem zum Beispiel Raumkonzepte und Lerntagebücher für die Schüler ein niveaudifferenziertes Lernen möglich machen. Außerdem gehe Vöhringer den spannenden Weg nur gemeinsam mit den Eltern der Fünft- und Sechstklässler, die sie als "echte Erziehungspartner" schätze "und nicht nur als Kuchenbacker".
Vom hohen Besprechungsbedarf weiß Vöhringer ehrlicherweise zu berichten, von den Herausforderungen, die der Kultur- und Wissens-transfer mit den übrigen Klassen und Lehrern mit sich bringt. Denn immerhin werden erst die 120 Kinder der fünften und 93 Schüler der sechsten Klasse nach dem neuen Stundenplan unterrichtet. Für die restlichen 388 Schüler bis zu Klasse zehn sind sie ja noch "reine Realschule", die herauswächst, Jahr für Jahr.
Kinder lieben Coachingstunden
Aber gemeinsam mit vier Gymnasialkollegen, drei Werkrealschul-Lehrern, einer Sonderschullehrkraft und ihrem Realschul-Team hat Vöhringer die Schule rasch zu einer Gemeinschaftsschule entwickelt, die Vorzeige-Charakter hat. Und dieses Kollegium entwickle gemeinsam Stundenpläne, ein Lerntagebuch und die Idee vom Vier-Augen-Gespräch.
Alle 14 Tage nehmen sich die Klassenlehrer für jedes Kind eine Viertelstunde Zeit, in der Lernfortschritte und Erfolge besprochen, aber auch die Selbsteinschätzung abgefragt oder private Probleme erörtert werden können. "Die Kinder lieben diese Coachingstunden", weiß Vöhringer.

SchwäZ 10.12.14: Alle unter einem Dach

(bas) Von den momentan 208 Gemeinschaftsschulen im Land sind nur 22 aus Realschulen hervorgegangen. Ein ehemaliges Gymnasium ist derzeit überhaupt nicht darunter.
In der Gemeinschaftsschule arbeiten Lehrer unterschiedlicher Besoldungsgruppen von A9 (für einen Fachlehrer) bis zu A14 (ein Oberstudienrats-gehalt) im selben Team.
"Abschulen" gehört zu den weniger schönen Vokabeln des Schuljargons und bedeutet: einen Schüler in die nächstuntere Schulart durchzureichen. Dieses Abschulen entfällt bei der Gemeinschaftsschule ebenso wie das Sitzenbleiben.
Das Thema Inklusion lässt sich in der GMS sehr gut umsetzen: L-Kinder (mit erhöhtem Lernbedarf), S-Kinder (sprachgestörte Kinder) und E-Kinder (Erziehungskinder, die hochgradig verhaltensauffällig sind) lösen in der Gemeinschaftsschule Sonderstunden aus, durch die eine zweite Lehrkraft mitarbeiten kann. Das empfinden auch Eltern von Kindern ohne Förderbedarf als ausgesprochen positiv und als bereichernd.

Nachgefragt: "Eltern sehen uns als Alternative zum G 8"

RAVENSBURG - Michaela Steinhilber ist die neue Schulleiterin der Realschule Ravensburg. Barbara Sohler hat nachgefragt, wie sie zur Gemeinschaftsschule steht.

Planen Sie eine Elternbefragung zum Thema GMS?

Eine Befragung hat bereits zu Beginn der Diskussion über die Gemeinschaftsschule stattgefunden. Damals sprachen sich knapp 90 Prozent unserer Eltern für die Realschule aus.

Bei Ihnen an der Schule gibt es also keine Elternstimmen, die sich eine Gemeinschaftsschule wünschen?

Eltern in Ravensburg haben die Möglichkeit, ihr Kind an einer Gemeinschaftsschule anzumelden. Ich gehe davon aus, dass alle Eltern, die ihr Kind bei uns anmelden, sich bewusst für die Realschule entscheiden. Viele Eltern sehen uns als Alternative zum G 8. Und rund 45 Prozent unserer Schülerinnen und Schüler besuchen nach dem Realschulabschluss ein berufliches Gymnasium.

Sandra Vöhringer hat bei der Vorstellung ihrer neuen Glemstal -Gemeinschaftsschule davon gesprochen, dass bei vielen Kollegen erst einmal die Angst vor etwas Neuem überwog. Wie sieht das an Ihrer Schule aus?

Dass meine Kolleginnen und Kollegen Neuem gegenüber offen sind, machen die vielen Beispiele der Unterrichtsentwicklung, aber auch Beispiele im sozialen Bereich deutlich. Wir arbeiten mit Streitschlichtern, haben ein Anti-Mobbing-Team, setzen auf Pausen-Mentoren.

Die Heterogenität - also die Tatsache, dass in einer Klasse sehr unterschiedlich begabte Kinder zusammen unterrichtet werden - ist auch in der Realschule angekommen. Wie begegnen Sie diesem Phänomen?

Heterogenität ist für die Realschule nichts Neues. Die Realschule Ravensburg hat schon vor acht Jahren begonnen, sich mit kooperativen Lernformen zu beschäftigen. Gute Erfahrungen machen wir seit zwei Jahren mit der Freiarbeit in Klasse fünf und sechs. Außerdem freuen wir uns, im kommenden Schuljahr eine bilinguale Klasse anbieten zu können. Und in diesem Schuljahr haben wir in der fünften Klasse auch Lerncoaching-Stunden eingeführt, übrigens zur Freude von Schülern und Lehrern gleichermaßen.

Planen Sie eine Elternbefragung zum Thema?

Eine Befragung hat ja bereits zu Beginn der GMS-Diskussion stattgefunden. Damals sprachen sich knapp 90 Prozent unserer Eltern für die Realschule aus.

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