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Es droht Überlastung

Das Schulgesetz mit den Regelungen zur Inklusion ist seit einem Jahr in Kraft. Viele Lehrkräfte arbeiten engagiert an der gemeinsamen Beschulung von Kindern mit und ohne Behinderung an den allgemeinen Schulen. Es gibt gute Beispiele. Allerdings: Die erfolgreiche Umsetzung der UN-Konvention ist ohne eine erhebliche Ausweitung der Ressourcen nicht möglich.

Foto: imago

Alle allgemeinen Schulen haben seit dem Schuljahr 2015/16 die Aufgabe, Schülerinnen und Schüler mit dem Anspruch auf ein sonderpädagogisches Bildungsangebot (BA) inklusiv zu beschulen. Die Verantwortung liegt laut Schulgesetz bei den allgemeinen Schulen. Die Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentren (SBBZ, früher Sonderschulen) sollen mit der Organisation und Durchführung der Inklusion nichts mehr zu tun haben.
Das Schulgesetz baut auf den Erfahrungen in fünf Schwerpunktregionen auf. Dort wurde 2011 noch von der CDU/FDP-Landesregierung ein Modellversuch eingerichtet. Die GEW hat schon damals darauf hingewiesen, dass die Inklusion ohne zusätzliche Ressourcen nicht gelingen kann. Trotzdem musste die Inklusion weitgehend ressourcenneutral bewältigt werden – bei einem strukturellen Unterrichtsdefizit von über fünf Prozent an den Sonderschulen.

Im Jahr 2014 hat die grün-rote Landesregierung ein erstes Konzept für die Umsetzung der Inklusion vorgelegt. Das Konzept ging davon aus, dass rund 27 Prozent der Eltern von Kindern mit Behinderung ein inklusives Bildungsangebot wählen werden. Dafür wurde ein zusätzlicher Stellenbedarf von über 4.000 Lehrerstellen errechnet. Diese Zahl wurde im Gesetzentwurf 2015 kleingerechnet. Bei einer angenommenen Inklusionsquote von 28 Prozent sollten bis 2022 ca. 10.500 Schüler/innen mit BA an allgemeinen Schulen unterrichtet werden. Dafür sollten nur noch rund 1.350 zusätzliche Stellen ausreichen.
Im Jahr 2015 und 2016 wurden jeweils 200 Stellen neu geschaffen. Allerdings hat nur ein Teil dieser Stellen die Unterrichtsversorgung an den SBBZ und in der Inklusion verbessert. Allein 50 Stellen werden für den Aufbau eines „Begleitsystems Inklusion“ in der Schulverwaltung eingesetzt. 100 Stellen wurden für zusätzliche Klassenteilungen an den allgemeinen Schulen reserviert. 42 Stellen sind für den Aufbau eines sonderpädagogischen Dienstes an den beruflichen Schulen vorgesehen, 28 Stellen finanzieren inklusive Angebote, die von Privatschulen erbracht werden. Das sind alles wichtige Aufgaben, aber die Stellen fehlen in der Unterrichtsversorgung an den SBBZ und in der Inklusion.

Mehr Schüler/innen als erwartet

Auch die Annahmen der Landesregierung zum stufenweisen Aufbau haben sich nicht bestätigt. Laut Statistischem Landesamt wurden im Schuljahr 2015/16 bereits 6.453 Schüler/innen mit BA inklusiv beschult – das sind weit mehr als 50 Prozent der für 2022 angenommenen Schüler/innen. Der Stellenaufbau muss also wesentlich schneller erfolgen als vorgesehen, um wenigstens die bescheidenen Ziele des Gesetzentwurfs zu erreichen. Dies ist umso wichtiger, da sich die Gesamtzahl der Schüler/innen mit BA an den SBBZ und in der Inklusion von 52.492 auf 55.628 erhöht hat.
Die GEW unterstützt den gesellschaftlichen Auftrag, inklusive Bildung zu ermöglichen. Sie fordert aber die dafür notwendigen Ressourcen. Insbesondere ist ein durchgehendes Zwei-Pädagogen-Prinzip notwendig. Die veränderte Akzentsetzung im Koalitionsvertrag hat die GEW mit Sorge und Unmut wahrgenommen. Stand im Koalitionsvertrag 2011 noch „Die Schulen erhalten die für die Inklusion notwendige personelle, räumliche und sachliche Ausstattung. (…) Es gilt das Zwei-Pädagogen-Prinzip.“ hat die grün-schwarze Landesregierung 2016 die Latte deutlich tiefer gelegt „Dabei streben wir, wo dies fachlich sinnvoll und möglich ist, das Zwei-Pädagogen-Prinzip an.“

Mehr Ressourcen für Schulverwaltung, SBBZ und Schulleitungen
Die Inklusion ist ein komplexer Entwicklungsprozess für die Schulverwaltung und das ganze Schulsystem. Er muss langfristig angelegt und mit zusätzlichen Ressourcen für Entwicklung und Durchführung ausgestattet werden. Die an den SBBZ vorgesehenen Ressourcen reichen für die Förderung in inklusiven Settings keinesfalls aus. Den sonderpädagogischen Mehrbedarf durch Inklusion hat die Landesregierung bei der Planung nicht berücksichtigt. Mit der Inklusion werden Kinder erreicht, die bisher nicht sonderpädagogisch gefördert wurden. Für das Zwei-Pädagogen-Prinzip sind pro Schüler/in mehr Ressourcen erforderlich als an den SBBZ. Eine erhebliche Ausweitung der Ressourcen ist deshalb dringend erforderlich.

Probleme gibt es auch bei der Organisation der Inklusion. Laut Schulgesetz liegt die Verantwortung für die Planung und Einrichtung der inklusiven Lösungen bei der Schulverwaltung. Das stellt angesichts der Menge der inklusiven Kinder, der Differenziertheit der Förderschwerpunkte und der Anzahl der beteiligten SBBZ und allgemeinen Schulen eine Überforderung dar. Im Organisationserlass fehlen Regelungen, wie der Lehrerbedarf für inklusive Settings berechnet werden kann. Insbesondere im Förderschwerpunkt „Lernen“ sind die derzeitigen Regelungen völlig ungeeignet.
Die Kompetenz der SBBZ und vor allem die Mitarbeit der Schulleitungen sind für eine erfolgreiche Inklusion unabdingbar. Derzeit bekommen die Schulleitungen der SBBZ keinerlei Ressourcen für die Inklusion. Sie haben aber Aufgaben: Die inklusiv arbeitenden Sonderpädagog/innen sollen inhaltlich weiterhin am SBBZ angebunden sein; die Schulleitungen der SBBZ sollen auch bei Beurteilungen in der Probezeit beteiligt werden. Ohne die Kompetenz der SBBZ werden auch Vorbereitung, Einrichtung und Begleitung der inklusiven Modelle nicht gelingen (regionale Planung, Beratung der Eltern und der allgemeinen Schulen, Beratung der Schulverwaltung und der Schulträger, Abordnung und Qualifizierung der Sonderpädagog/innen).

Die SBBZ brauchen deshalb Schulleitungsressourcen für die Inklusion (Anrechnungsstunden, Funktionsstellen). Die GEW fordert zusätzlich zu der Zählung der Schüler/innen mit BA an den allgemeinen Schulen eine virtuelle Schülerzählung für die Leitungsressourcen an den SBBZ. Es wäre ein Leichtes, im Organisationserlass oder in der Arbeitszeitverordnung eine entsprechende Regelung zu schaffen. Die dafür notwendigen Ressourcen sind kaum der Rede wert.
Auch die sonderpädagogischen Lehrkräfte brauchen mehr Entlastung: Sie sind durch mehrere Einsatzorte belastet, haben doppelte Konferenzen und einen wesentlich höheren Besprechungsaufwand. Sie müssen für die Inklusion ihre Professionalität auf verschiedenen Ebenen weiterentwickeln: Zusammenarbeit mit den Lehrkräften der allgemeinen Schule, Arbeit in inklusiven Setting als neues sonderpädagogisches Handlungsfeld, Erhalt der fachrichtungsbezogenen Fachlichkeit. Für diese Aufgaben brauchen sie Anrechnungsstunden.

Überlastung der allgemeinen Schulen

Auch die allgemeinen Schulen bekommen viel zu wenig Unterstützung. Die Schulleitungen erhalten keine zusätzliche Leitungszeit für die mit der Inklusion verbundenen Aufgaben. Dabei ist die Organisation der Modelle und die Schul- und Unterrichtsentwicklung sehr aufwändig. Auch die Elternarbeit ist bei Schüler/innen mit Behinderung arbeitsintensiv. Die Lehrkräfte erhalten keine Anrechnungsstunden für die Unterrichtsentwicklung und den erhöhten Besprechungsaufwand. Und natürlich bekommen die allgemeinen Schulen viel zu wenig sonderpädagogische Unterstützung. Vom Zwei-Pädagogen-Prinzip sind die Schulen weit entfernt. Es gibt für die inklusiven Kinder keine spezifischen Regeln und Ressourcen für den Ganztag. Wenn es zu Problemen bei der Inklusion kommt, droht die Gefahr, dass die Probleme über die Instrumente des
§90, sprich Unterrichtsausschlüsse, gelöst werden.

Die GEW fordert unabhängig von der Größe der inklusiven Gruppe ein durchgängiges Zwei-Pädagogen-Prinzip. Außerdem müssen inklusive Klassen kleiner sein. Die geplanten 1.350 Neustellen bis 2022 reichen dafür nicht aus. Die GEW fordert auch mehr Ehrlichkeit: Die Landesregierung muss wesentlich mehr Stellen für Sonderpädagog/innen schaffen als geplant und für mehr sonderpädagogischen Nachwuchs sorgen: Die Studienplätze müssen sofort ausgeweitet, Lehrkräfte für das Aufbaustudium mit Bezügen freigestellt werden. Auch ein berufsbegleitendes Qualifizierungsprogramm für Lehrkräfte der allgemeinen Schule ist erforderlich.
Die GEW benennt die Probleme seit Jahren. Sie müssen endlich gelöst werden. Es droht eine Überlastung der Lehrkräfte und der Schulleitungen, die sehr beunruhigend ist; die Akzeptanz und die Qualität der Inklusion sind in ernsthafter Gefahr.

Die GEW geht davon aus, dass die Landesregierung die schulgesetzlichen Regelungen erfolgreich umsetzen will. Aber ohne die geschilderten Maßnahmen können die Kinder und Jugendlichen mit Behinderung nicht die notwendige Förderung erhalten. Lehrkräfte und Schulleitungen geraten zunehmend in unzumutbare Situationen. Unter der Überforderung der Lehrkräfte leidet der Unterricht und das Lernen der Kinder ohne Behinderung. Die Landesregierung nimmt ihre Verantwortung für die Schüler/innen und die Lehrkräfte nicht wahr.