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Was ein neues Arbeitszeitmodell leisten kann.

Eine Studie zur Lehrkräftearbeitszeit arbeitet Kritikpunkte, Veränderungsdruck und Handlungsempfehlungen zum Depuatsmodell heraus.

Foto: Pixabay, frei verwendbar

Das Deputatsmodell in Deutschland zur Bemessung der Arbeitszeit von Lehrkräften ist weltweit einzigartig.  Mark Rackles, Bildungsexperte und ehemaliger Staatssekretär für Bildung im Senat von Berlin, hat  das Modell im Auftrag der Deutschen Telekomstiftung untersucht. Er hat Kritikpunkte, Veränderungsdruck und Handlungsempfehlungen herausgearbeitet.

Vor 150 Jahren wurde die Weltausstellung in Wien von Kaiser Franz Joseph I. eröffnet, die Jeans patentiert und der Kaffeefilter erfunden. Und seither regelt auch das Deputatsmodell die Arbeitszeit der Lehrkräfte an Schulen. Die nahezu ausschließliche Orientierung an der Unterrichtsverpflichtung wurde seither kaum verändert. Es gab zwar immer wieder Anpassungen bei der Höhe des Deputats, systemische Veränderungen blieben jedoch weitgehend aus. Bei der GEW-Umfrage 2019 wurde gleichfalls bestätigt, dass der Arbeitsdruck enorm ist, was unter anderem mit der deutlichen Zunahme der außerunterrichtlichen Tätigkeiten begründet wurde (siehe b&w 03/2019: Schöner Beruf schwer gemacht). Trotz dieser eindeutigen Diagnose hat bislang nur Hamburg eine Abkehr vom Deputatsmodell  vollzogen und ein Arbeitszeitmodell entwickelt, das nichtunterrichtliche Tätigkeiten explizit in die Zuweisung der Arbeitszeit einbezieht. Das OVG-Urteil aus Lüneburg zur Erfassung der Arbeitszeit (2015), die so genannten „Mussmann-Studien“ der Universität Göttingen und die Pflicht zur Erfassung der Arbeitszeit durch den EuGH (2022) erzeugen jedoch inzwischen einen hohen Veränderungsdruck. Die Corona Pandemie, die Digitalisierung und der akute Lehrkräftemangel sind weitere Faktoren, die die  Dysfunktionalität des Pflichtstundenmodells offenlegten. 

Das deutsche Modell
In der aktuellen Studie von Mark Rackles werden die Merkmale des deutschen Lehrkräftearbeitszeitmodells wie folgt skizziert: der 45-Minuten-Takt des Unterrichts, die geringe Differenzierung z. B. nach Stufen der Fächern, die Unbestimmtheit der nichtunterrichtlichen Arbeitszeit und Ermäßigungsstunden für zusätzliche Aufgaben als einzige Möglichkeit, die bestimmte Arbeitszeit zu beeinflussen. Die Unbestimmtheit der Tätigkeiten außerhalb des Kernunterrichts führt zwangsläufig dazu, dass jede Zusatzaufgabe mittelbar als Arbeitszeiterhöhung durchschlägt. Wird eine Ganztagsschule eingeführt, inklusiv gearbeitet oder  Coaching für die Schüler*innen angeboten, ist damit ein Zeitaufwand verbunden, der kaum oder gar nicht im Deputatsmodell abgebildet ist. Es  besteht zwar die Option der Ermäßigungsstunden, aber auch  diese sind recht starr und umfassen auch nicht allgemeine Aufgaben wie Kooperationszeiten. Weitere Kritikpunkte am Deputatsmodell sind die implizite Abwertung der nichtunterrichtlichen Tätigkeiten, die  fehlende Differenzierung nach der tatsächlichen Belastung (Korrekturzeiten) und die zu geringe Anpassungsfähigkeit an neue Aufgaben oder situative Erfordernisse. Der letzte Punkt wurde während der  Corona-Pandemie besonders augenscheinlich.  Wie erwähnt, wendet der Stadtstaat Hamburg seit 2003 ein Arbeitszeitmodell an, das sich an den tatsächlichen Aufgaben orientiert. Dort werden mittels einer Faktorisierung Unterschiede bei Fächern mit und ohne Korrekturaufwand sowie allgemeine und schulorganisatorische Aufgaben in einem Gesamtarbeitszeitbudget erfasst. Jede Lehrkraft erhält dann von der Schulleitung eine individuelle Soll-Arbeitszeit und Unterrichtsverpflichtung zugewiesen. Aber auch dieses Modell hat seine Schwachstellen. Die GEW Hamburg bemängelt, dass neue Aufgaben nicht in das  Berechnungsmodell einfließen und sich die faktische Arbeitszeit keineswegs verringert hat.

Handlungs- und Veränderungsdruck
Trotz übereinstimmender Erkenntnis nahezu aller Akteure, dass ein neues Arbeitszeitmodell überfällig ist, zeigt sich das Pflichtstundenmodell außerordentlich veränderungsresistent. Aktuelle Entwicklungen könnten dies durchbrechen. In der Studie werden dafür folgende Faktoren angeführt: 

Gesundheitsschutz: Der akute Lehrkräftemangel führt inzwischen zur systematischen Überlastung der Beschäftigten. Damit einher gehen die noch lange nicht bewältigten Auswirkungen der Corona-Pandemie. Entgrenzte Arbeit und eine übermäßige emotionale Beanspruchung sind inzwischen Alltag an vielen Schulen 

Arbeitsrecht: Die Rechtsprechung des EuGH vom Mai 2019 verlangt eine Erfassung der Arbeitszeit aller Tätigkeiten von Arbeitnehmer*innen. Dies schließt in der Definition des EuGH auch Beamt*innen mit ein. Die GEW auf Bundesebene hat bereits Eckpunkte hierzu formuliert. Unter anderem darf die Erfassung nicht zu Kontrollzwecken genutzt und keine Präsenzpflicht begründet werden. Es braucht die klare Definition der Tätigkeiten.  

Pädagogik: Das breite Aufgabenspektrum der Lehrkräfte und die Veränderung der pädagogischen Arbeit erfordern eine Abkehr von der starren Arbeits- und Unterrichtszeit. Neben der Ganztagsschule und der  Inklusion wirkt auch die Digitalisierung als Treiber für den Wandel (Deeper Learning, Flipped Classroom,). Und nicht zuletzt hat die individuelle Förderung, beziehungsweise das differenzierte Lernen, heute  einen hohen Stellenwert und erfordert flexible Lernformate, die in einem Deputatsmodell kaum abzubilden sind. Der Einfluss durch den künftigen Einsatz von KI in Schule und Unterricht wird diese Aspekte  vermutlich noch einmal zuspitzen.

Fachkräftebedarf: Der akute und für mindestens noch 20 Jahre andauernde Lehrkräftemangel macht eine strukturelle Änderung des bestehenden Arbeitszeitsystems – als gegenläufige Wirkung der bisher  beschriebenen Faktoren – hingegen eher unwahrscheinlich. Im internationalen Vergleich haben die hiesigen Lehrkräfte mit die höchsten Arbeitszeiten. Sie erledigen viele Aufgaben in der unbestimmten Arbeitszeit und zu einem Gutteil in unbezahlter Mehrarbeit. Ein neues Arbeitszeitmodell könnte also kaum eine Entlastung in Aussicht stellen, weil die dazu notwendigen Neueinstellungen nicht  realisiert werden können. Dies könnte allenfalls durch eine Verlagerung von außerunterrichtlichen Tätigkeiten auf nichtpädagogisches Personal gelingen.

Internationaler Vergleich
Das deutsche Deputatsmodell ist im internationalen Vergleich eine Ausnahme. Die in der Studie ausführlich dargestellten Arbeitszeitregelungen Österreichs, der Schweiz, von Dänemark, Spanien, Japan und den USA zeigen unterschiedlichste Modelle und Varianten der Definition und Festlegung der Arbeitszeit, der Präsenzzeiten, der Spreizung der Stunden nach Schulstufen und Fächern und des Grads der Zentralisierung der Regelungen. Gemeinsam mit fast allen OCED-Ländern ist, dass die Arbeitszeit fast nirgends erfasst wird. Klare Aufgabenbeschreibungen, die Jahresarbeitszeit als Ausgangsbasis und die  von den Lehrkräften faktisch wahrgenommen Aufgaben sind laut Rackles hilfreiche Impulse aus der Schweiz, aus Dänemark oder Hamburg für ein alternatives Arbeitszeitmodell. 

Handlungsempfehlungen
Die Empfehlungen der Studie sind klar: Die gesamte Arbeitszeit muss systematisch erfasst werden. Das Pflichtstundenmodell sollte durch „ein neues Zuweisungsmodell globaler Budgets an  ergebnisverantwortliche Schulen“ ersetzt werden. Damit würden mehr Flexibilität, mehr Gerechtigkeit und ein besserer Gesundheitsschutz möglich. Der Jahresarbeitszeit sollte ein einfach gehaltenes  Faktorisierungssystem zugrunde gelegt werden, das besonders die unterschiedlichen Anforderungen der Schulstufen und des Korrekturaufwands berücksichtigt. Die Tätigkeitsfelder Unterricht, unterrichtsnahe  Tätigkeiten, professionelle Kompetenz und allgemeine Aufgaben müssen in die Arbeitszeit einfließen. Aufgrund der Schülerzahlen, des Bildungsplans und weiterer schulischen Kriterien (Ganztag, Inklusion, ...) wird eine Globalzuweisung der Einzelschule ermittelt. Was nun jede einzelne Lehrkraft erledigt, wird nach den Vorstellungen der Studie mit der Schulleitung besprochen und festgelegt. Die Schulleitung hätte in  diesem Modell eine zentrale Funktion. Sie müsste ihrerseits entweder durch eine vollständige Freistellung oder durch eine zusätzliche Funktionsstelle (nichtpädagogische Verwaltung / „Personalabteilung“) entlastet werden. Die Umstellung der  Arbeitszeit schafft dann Akzeptanz, wenn sie transparent und unter Einbeziehung der Beschäftigten vonstattengeht, ist Mark Rackles überzeugt. Für die Abkehr vom Deputatsmodell spreche eine höhere Arbeitszufriedenheit, eine höhere Effizienz und ein attraktiveres, weil zeitgemäßes Berufsbild.  

 

Quelle:
Mark Rackles, Lehrkräftearbeitszeit in Deutschland – Veränderungsdruck und Handlungsempfehlungen 
Expertise im Auftrag der Deutsche Telekom Stiftung, Berlin, April 2023

Merkmal

Altes Modell

Neues Modell

Bezugsgröße

Deputatstunden

Wochenstunden*)

Zeitvorgabe

Unterrichtsstunden pro Woche

Wochenarbeitszeit*)

Soll-Arbeitszeit

Unbestimmt

46,5 Wochenstunden*)

Arbeitszeiterfassung

Nein

Ja

Überstunden jenseits des Unterrichts

Unbezahlt

Bezahlt

Differenzierung

Nach Schularten

Nach Schulstufen und Fächern

Aufgabenbeschreibung

Nein

Ja

Zeitliche Unterlegung der Tätigkeiten

Nur Unterricht

Alle Tätigkeitscluster

Präsenzpflicht

Nein

Nein

Zuweisungssystem

Zweckgebunden

Globalzuweisung

Autonomie der Schulleitung

Niedrig

Hoch

Beauftragung der Lehrkraft

Zentral

Dezentral (Schulleitung)

Personalmanagement

Zentral

Dezentral (Schulleitung)

Autonomie der Lehrkraft

Hoch

Mittel

Pädagogische Flexibilität

Niedrig

Hoch