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Nachmittagsbetreuung in Ganztagsschulen

„Als ob Bildung nur am Vormittag stattfände“

Bettina Johl ist Erzieherin in einer Ganztagsschule. Als sie 2015 ihre Tätigkeit aufnahm, war die Einrichtung noch ein Hort, für den die Standards nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz galten. Jetzt gilt der miserable „Qualitätsrahmen Betreuung“.

Fünf Kinder sitzen auf einer Bank die auf dem Boden liegt.
Eine besondere Herausforderung liegt im Mittagsband … (Foto: imago)

Nach dem Wechsel von der Nachmittagsbetreuung im Hort zu drei schulischen Ganztagen pro Woche hatten wir bedeutend mehr Kinder. Das bedeutete zunächst mal: Raumnot. Wir arbeiteten lange mit einer Baustelle und allen damit verbundenen Beeinträchtigungen und Gefahren. Seit der Fertigstellung eines Anbaus haben wir etwas mehr Platz, da neben neuen Klassenzimmern auch Input-Räume entstanden sind. Schwierig ist es mit dem verfügbaren Zeitrahmen, denn die Nachmittage sind durchgetaktet. Wenn die Ganztagsschule vor 16 Uhr endet, bleibt nicht viel Spielraum für Pausen und freie Gestaltung. Eine besondere Herausforderung liegt im Mittagsband. Wenn eine Mensa von weiteren Schulen genutzt wird, kommt es schnell zu Engpässen während der Stoßzeiten. Es gibt dann Mittagessen in Schichten. Pro Klassenstufe bleibt so höchstens eine halbe Stunde, das Schlange-Stehen eingerechnet. Unter Zeitdruck eingenommene Mahlzeiten sollten für Grundschulkinder eigentlich ein Tabu sein.

Die pädagogische Qualität leidet

Wir verfügen zum Glück von jeher über eine Konzeption und haben einen kommunalen Träger, der sich unverändert der pädagogischen Qualität verpflichtet sieht und weiterhin Fachkräfte beschäftigt. Das ist längst nicht überall so. An vielen Ganztagsschulen arbeiten geringfügig oder ehrenamtlich Beschäftigte ohne Ausbildung. Oft wird stillschweigend vorausgesetzt, dass, wer Erfahrungen aus der Familien- oder Jugendarbeit mitbringt, ähnlich viel leistet wie pädagogische Fachkräfte und dies ohne entsprechende Bezahlung. Zugleich fehlt die Perspektive, nachträglich eine Qualifikation zu erwerben, die zu Anerkennung und besseren Verdienstmöglichkeiten führt.

Das ist ungerecht und schadet auch dem Berufsbild „Erzieher*in“. Wir werden in den Schulen auf Betreuung reduziert, als ob Bildung nur vormittags im Klassenzimmer stattfände. Die Trias aus Bildung, Erziehung und Betreuung bildet jedoch den Kern meines beruflichen Auftrags als Erzieherin.

Kinderrechte hängen nicht von Zeit, Geld und Lust ab

Wir brauchen dringend verbindliche Qualitätsstandards für alle Betreuungsangebote, auch für die flexiblen und ergänzenden! Diesen Angeboten – und dies wissen auch viele Eltern nicht! – fehlt die rechtliche Grundlage. Sie sind nicht den Horten gleichgesetzt. Ein Hort benötigt nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz (gemäß § 45 SGB VIII) eine Betriebserlaubnis, die nur erteilt wird, wenn dort das Wohl der Kinder und Jugendlichen gewährleistet ist. Räumliche, fachliche, wirtschaftliche und personelle Voraussetzungen müssen erfüllt, die gesellschaftliche und sprachliche Integration sowie gesundheitliche Vorsorge gewährleistet sein und es braucht zur Sicherung der Rechte von Kindern und Jugendlichen geeignete Verfahren der Beteiligung und die Möglichkeit der Beschwerde in persönlichen Angelegenheiten.

Der Kinderschutz ist in § 8a des SGB VIII verankert. Den Kinderrechten, auch wenn sie den Weg ins Grundgesetz noch vor sich haben, kommt der Status eines einfachen Bundesgesetzes zu. Dies bedeutet: Sie haben Gültigkeit. Sie sind kein Kann, wenn wir gerade einmal Zeit, Geld, Lust und gute Laune haben. Im frühpädagogischen Bereich ist all dies selbstverständlich und muss in der Grundschule seine Weiterführung finden, wie es auch in der Matrix des Orientierungsplans steht. Ein Kind hat nicht plötzlich weniger Rechte, nur weil es in die Schule kommt!

Mit dem „Qualitätsrahmen Betreuung“ für Ganztagsschulen der Wahlform hat die ehemalige Kultusministerin Susanne Eisenmann auf die Schnelle ein Papier nachgelegt, damit es für die Finanzierung von Ganztagsplätzen Geld vom Bund gibt (siehe b&w 07-08/2021, Seite 30). Leider bleibt es weit hinter dem „Qualitätsrahmen Ganztagsschule“ zurück. Es ist ein Sparpaket: Nahezu alle Aussagen darin bleiben beliebig und die Umsetzung ist demnach abhängig vom guten Willen und der Finanzkraft der jeweiligen Kommune beziehungsweise dem zuständigen freien Träger. Weder Kinderschutz noch Kinderrechte finden sich in diesem „Qualitätsrahmen“ wirksam gesichert , zumal er sehr großzügig ausgelegt werden kann und keinesfalls eine kindorientierte ganztägige Betreuung garantiert, von Bildung und Erziehung ganz zu schweigen!

Ein Kommentar von Heike Herrmann, GEW-Referentin für Kinder- und Jugendhilfe

In Baden-Württemberg sind nur rund 20 Prozent der Schulen gebundene Ganztagsschulen, wie sie im Schulgesetz vorgesehen sind. Damit ist das Land im bundesweiten Vergleich Schlusslicht und hat bis 2026 enorme Herausforderungen vor sich. Denn ab diesem Zeitpunkt tritt der Rechtsanspruch auf einen Ganztagsplatz für alle Kinder, die eingeschult werden, in Kraft. Nach Berechnungen des Deutschen Jugendinstituts ­fehlen bis dahin in Baden-Württemberg rund 200.000 Plätze.

Letztes Jahr wurden 19 Ganztagsschulen beantragt, im Jahr davor waren es 13. Wenn es in diesem Tempo weitergeht, wird für die wenigsten Kinder ein Rechtsanspruch an gebundenen Ganztagsschulen eingelöst. Die Mehrheit der Erstklässler*innen wird eine Schule kennenlernen, an der sie vormittags unterrichtet und nachmittags in flexiblen, kommunalen Angeboten betreut werden. Für diese Betreuungsangebote ­konnte Baden-Württemberg mit der Bundesregierung eine Sondervereinbarung aushandeln und sichert im „Qualitätsrahmen Betreuung BW“ Qualität in den kommunalen Nachmittagsangeboten zu.

Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) kritisiert diesen Qualitätsrahmen, da er keine objektiv nachweisbaren Qualitätskriterien enthält und damit wirkungslos ist. Die Bezeichnung „Qualitätsrahmen Betreuung“ erweckt den Anschein, dem „Qualitätsrahmen Ganztagsschule Baden-Württemberg“ (PDF) gleichzukommen. Das ist aber keineswegs der Fall. Den „Qualitätsrahmen Ganztagsschule Baden-Württemberg“ begrüßt die GEW.

Die GEW findet nicht nur die pädagogische Qualität in den Betreuungsangeboten für problematisch, sie kritisiert auch, dass es kein Fachkräftegebot gibt und damit einem prekären Arbeitsmarkt Tür und Tor geöffnet wird.

„Ein Kind hat nicht ­plötzlich weniger Rechte, nur weil es in die Schule kommt!“

Inklusion bleibt auf der Strecke

Besonders schockierend ist, dass Inklusion darin erst gar keine Erwähnung findet. Ich frage mich: Wie kann das sein? Inklusion ist Menschenrecht! Dafür braucht es aber zusätzliche Mittel. Ohne Mindeststandards lassen sich diese nicht einfordern. Dann bleibt Inklusion auf der Strecke, wird sehenden Auges an die Wand gefahren. Die Leidtragenden sind die Kinder, umso mehr, wenn es schon an den allgemeinen Rahmenbedingungen fehlt. Denn das tut es.

Es beginnt damit, dass nicht allen Kindern Zugang zu einer warmen Mahlzeit gewährt wird. Vielerorts fehlt es an Trinkwasserspendern und einem gesunden Snack für Zwischendurch, wie etwa frisches Obst, um sich nach Lernphasen wieder mit Energie versorgen zu können. Es mangelt vielerorts auch an ausreichenden Bewegungsmöglichkeiten. Es sind zwar Turnhallen vorhanden, aber der Belegungsplan zeigt oft keine Zeitfenster, in denen sie vom Ganztagsbetrieb genutzt werden könnten. Auch in vielen Außenbereichen fehlt es an Möglichkeiten zum Toben, Turnen und Klettern, ebenso wie für Naturerfahrungen. All das wäre für eine gesunde Entwicklung der Motorik und der Sinneswahrnehmungen sowie für die psychische Stabilität so wichtig!

Es ärgert mich, dass wir schon lange über Ganztagsschulen nachdenken, während auf politischer Seite alles so schleppend vorangeht! Bereits 2005 haben die Kinder- und Jugendpsychologin Oggi Enderlein und der Soziologe und Pädagoge Lothar Krappmann sich die Bedürfnisse großer Kinder genauer angeschaut und „23 Thesen für eine gute Ganztagsschule“ formuliert. Es gibt das Rechtsgutachten der Bertelsmann-Stiftung „Chancen guten Ganztags für Kinder im Grundschulalter: menschenrechtliche Perspektiven“ (PDF) von Prof. Friederike Wapler vom November 2020 sowie das Positionspapier „Einen guten Ganztag auf der Grundlage eines integrierten Bildungsverständnisses schaffen!“ (PDF) von Prof. Ludger Pesch und Prof. Dr. Falk Radisch, das im Rahmen eines Arbeitsbündnisses „Rechtsanspruch guter Ganztag“, unter Beteiligung von AWO (Arbeiterwohlfahrt), Bertelsmann Stiftung, Robert Bosch Stiftung und Stiftung Mercator entwickelt wurde. Warum finden diese Erkenntnisse nicht selbstverständlich Eingang in die Entscheidungsprozesse?

Für den guten Ganztag der Zukunft wünsche ich mir gutes Zusammenwirken von Schule und Jugendhilfe mit mehr Vernetzung und Kooperation; dazu gehören dringend bezahlte Kooperationszeiten für Lehrkräfte und multiprofessionelle Teams, um Kinder individuell unterstützen zu können! Ganztagsschule muss zu einem Lern- und Lebensort für alle werden!

„Weder Kinderschutz noch ­Kinderrechte ­finden sich in diesem Qualitätsrahmen ­wirksam gesichert.“

Kontakt
Bettina Johl
Vorsitzende Fachgruppe Sozialpädagogische Fachkräfte an Schulen