IQB-Bildungstrend 2022 Sekundarstufe
Better English, schlechter Deutsch
Wie steht es um die Kenntnisse der Neuntklässler*innen in Sprachen und wie haben sich diese im Zeitablauf entwickelt? Darum geht es beim im September veröffentlichen IQB-Bildungstrend. Und natürlich vergleicht sich jedes Bundesland mit anderen.
Konkret geht es beim aktuellen IQB-Bildungstrend um die Erfüllung oder Nichterfüllung der Bildungsstandards in den Fächern Deutsch und Englisch, in einigen Bundesländern auch um Französisch. Da es sich nach 2009 und 2015 bereits um die dritte Messung von Schüler*innen der Sekundarstufe handelt, werden auch Trendvergleiche angestellt. Außerdem werden die Ergebnisse nach unterschiedlichen Kriterien wie Migration, sozialer Herkunft und Geschlecht differenziert.
Die Referenzgröße zur Einordnung und Bewertung der Schüler*innenleistungen sind die bundesweit geltenden Bildungsstandards der jeweiligen Fächer und Abschlüsse. Sie können auf der Homepage der Kultusministerkonferenz nachgelesen werden. Bildungsstandards definieren, welche Kompetenzen Schüler*innen bis zu einem bestimmten Zeitpunkt (in diesem Fall: welchen Abschluss) erreicht haben sollen. Im jetzt vorliegenden Bildungstrend für die Sekundarstufe sind dies die Kompetenzen für den ersten (ESA) und den mittleren Schulabschluss (MSA). Erläuterungen zu Definition, Zuordnung und Aufgabenbeispielen findet man im Berichtsband ab Seite 53 ff., der kostenfrei Online erhältlich ist.
Ausgewählte Ergebnisse
Kompetenzstufen
Beim Bewerten der Ergebnisse ist darauf zu achten, welche Schüler*innengruppe dargestellt wird. Für die Gruppe ALLER einbezogenen Neuntklässler*innen wird berichtet, welcher Anteil
a) den Mindeststandard für den ESA nicht erreicht (Kompetenzstufe Ia) beziehungsweise
b) den Mindeststandard für den MSA nicht erreicht (Kompetenzstufe Ia und Ib) unabhängig davon, welchen Abschluss die Schüler*innen tatsächlich anstreben
Das ist GRUPPE 1.
Dann folgen Auswertungen von Teilgruppen, zunächst die Population der Neuntklässler*innen, die mindestens den MSA ANSTREBEN und
a) den Mindeststandard für den MSA nicht erreichen (Kompetenzstufen Ia – Ib),
b) den Regelstandard für den MSA erreichen oder übertreffen (Kompetenzstufen III –V) und
c) den Optimalstandard für den MSA erreichen (Kompetenzstufe V)
Das ist GRUPPE 2.
Die dritte Gruppe sind die Gymnasiast*innen. Hier wird ausgewertet, wie viele
a) den Regelstandard für den MSA erreichen oder übertreffen (Kompetenzstufen III–V) und
b) wie viele den Optimalstandard für den MSA erreichen (Kompetenzstufe V). (vgl. S. 65 f.)
Das ist GRUPPE 3.
Um diese Systematik nachvollziehen zu können, wird sie beispielhaft für den Kompetenzbereich Lesen in Tabelle 1 dargestellt. Die Ergebnisse zu den Teilkompetenzen Zuhören und Orthografie findet man im Berichtsband ab Seite 69, für Englisch ab Seite 97, Französisch ab 129.
Knapp ein Drittel der Neuntklässler*innen verfehlt die Mindeststandards MSA im Lesen, 34 Prozent im Zuhören und 22 Prozent im Teilbereich Orthografie. Die Spitzengruppe der Schüler*innen, die die Optimalstandards erreichen, ist mit einer Bandbreite von 4 bis 8 Prozent über alle Länder hinweg „relativ gering besetzt“ (Seite 94). Nur Bayern und Sachsen können in der Gruppe derjenigen, die die Mindeststandards verfehlen und derjenigen, die die Optimalstandards erreichen, vergleichsweise gute Werte vorweisen. Besser sieht es in Englisch aus. Demnach verfehlen 24 Prozent den Mindeststandard für den MSA im Leseverstehen und 14 Prozent im Hörverstehen. In einigen Bereichen (siehe Tabelle) erzielt Baden-Württemberg bessere Ergebnisse als im Bundesschnitt, die meisten Ergebnisse weichen aber nicht signifikant davon ab.
Trends
Der im Jahr 2022 durchgeführte Bildungstrend ist nach 2009 und 2015 der dritte Bericht für die Sekundarstufe. Deshalb nehmen die Leistungsvergleiche dieser Zeiträume einen breiten Raum der Auswertung ein.
Sowohl für alle Teilkompetenzen in Deutsch (Lesen, Zuhören, Orthografie), Englisch (Hörverstehen, Leseverstehen) und Französisch (Hörverstehen, Leseverstehen) und für die beschriebenen drei Schüler*innengruppen wurden umfassende Berechnungen angestellt. In diesem Beitrag wird exemplarisch auf die Trends für Deutsch-Lesen für die Gruppe aller Neuntklässler*innen eingegangen. Abbildung 1 zeigt deutlich, dass die Anteile der Schüler*innen, die die Mindeststandards verfehlen, seit 2009 ansteigen.
Während zwischen 2009 und 2015 die Ergebnisse der Kompetenzstufen in den Fächern und in den Ländern uneinheitlich sind, ist der Leistungsabfall zwischen 2015 und 2022 klar erkennbar: 2022 liegt der Anteil der Neuntklässler*innen, die den Mindeststandard MSA verfehlen, um 9 Prozentpunkte höher als 2025 (+16 Prozent – Zuhören, +9 Prozent Orthografie). Der Anteil der Schüler*innen, die den Regelstandard erreichen, ist in allen Kompetenzbereichen in Deutsch deutlich gesunken.
In Englisch hat sich die positive Entwicklung seit 2009 hingegen fortgesetzt und seit 2015 sogar verstärkt.
Mittelwerte und Streuung
Weitere Maße zum Vergleich der Leistungen und der Leistungsentwicklung sind der Mittelwert und die Streuung. Der Mittelwert bildet eine grobe Annäherung an das durchschnittlich erreichte Leistungsniveau, die Streuung zeigt, wie groß die Bandbreite der Leistungen ist. Das Ziel ist, einen möglichst hohen Mittelwert und eine geringe Streuung zu erreichen, mit anderen Worten: ein hohes Niveau für möglichst viele Schüler*innen.
Im Bildungstrend 2022 findet sich Baden-Württemberg in der Gruppe der Bundesländer, denen es gelingt, signifikant höhere Mittelwerte als im Bundesdurchschnitt zu erreichen. Durchgängige Verbesserungen im Fach Deutsch erzielen Bayern und Sachsen. Baden-Württemberg gelingt das im Lesen und in der Orthografie im Fach Deutsch sowie im Hörverstehen im Fach Englisch. Auch Hamburg kann Teilverbesserungen vorweisen.
Die Streuungsmaße befinden sich in Baden-Württemberg im Großen und Ganzen nahe am Bundesdurchschnitt. Im Bereich Lesen gelingt es aber erfreulicherweise in der Gruppe der Gymnasiasten, eine homogenere Leistung im Lesen zu erreichen (Seite 154).
Soziale Kriterien und Leistung
Wie seit Jahren kann man kurz und knapp sagen, dass der Zusammenhang von Herkunft und Leistung nach wie vor ein großes Problem ist. Dieser Aspekt der Bildungsdiskriminierung hat sich seit 2015 sogar noch verstärkt. Die Kompetenzrückgänge in Deutsch seit 2015 sind vor allem in den benachteiligten Schüler*innengruppen zu finden. Spiegelbildlich sind die Verbesserungen im Fach Englisch vor allem auf die Leistungszuwächse der Schüler*innen zurückzuführen, die aus besser gestellten Haushalten kommen.
„Kompetenzrückgänge in Deutsch sind seit 2015 vor allem in den benachteiligten Schülergruppen zu finden – Leistungszuwächse im Fach Englisch vor allem bei Schüler*innen, die aus besser gestellten Haushalten kommen.“
38 Prozent aller Neuntklässler*innen haben im Bundesschnitt einen Migrationshintergrund. Die Anteile variieren in den Bundesländern erheblich. In Sachsen-Anhalt sind es 10,6, in Bremen 57,1 Prozent, in Baden-Württemberg 45,7 Prozent. Baden-Württemberg gehört mit Bremen, Hessen und dem Saarland in die Gruppe der Länder, die seit 2009 den größten Zuwachs von Neuntklässler*innen mit Zuwanderungsgeschichte hatten (+17 Prozent). Im Bericht heißt es zum Thema Migration: „Auch nach Kontrolle von Unterschieden in den sozialen Hintergrundmerkmalen erreichen Schüler*innen, die in ihren Familien nur manchmal oder nie Deutsch sprechen, im Lesen und Zuhören im Durchschnitt ein geringeres Kompetenzniveau als Jugendliche, die in ihren Familien immer Deutsch sprechen. Dies unterstreicht nochmals die Bedeutsamkeit sprachlicher Förderung.“ In Englisch konstatieren die Autor*innen des Bildungstrends hingegen Kompetenzvorteile für mehrsprachig aufwachsende Jugendliche.
Offene Fragen
Erklärungsbedürftig bei den Ergebnissen des Bildungstrends 2022 ist die Leistungsverschlechterung in Deutsch bei gleichzeitigem Anstieg der Englischkompetenzen. Die Autor*innen verweisen für die Verschlechterungen auf die pandemiebedingten Schulschließungen. Das überzeugt allerdings kaum, denn die galten für alle Fächer. Eine Ursache könnte das im Bericht ebenfalls festgestellte stark ausgeprägte Desinteresse am Fach Deutsch sein (Seite 349). Warum das Ansehen des Fachs so niedrig ist, muss dringend ergründet werden.
Die Identifizierung „außerunterrichtlicher Lerngelegenheiten“ (Seite 354) als Grund für die besseren Fremdsprachenkenntnisse scheint hingegen deutlich plausibler. Verkürzt gesagt, sind offensichtlich Netflix & Co. gut in der Lage, das Verstehen und Sprechen einer Fremdsprache zu befördern. Hieraus sollten Folgerungen für den Fremdsprachenunterricht diskutiert und dann auch gezogen werden.
Der Bericht zeigt außerdem, wie dringend eine qualifizierte Sprachförderung und eine zusätzliche, nach sozialen Kriterien berechnete Ressourcenzuweisung im Bildungsbereich umgesetzt werden muss – schnell und flächendeckend.