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Lehramtsausbildung und Schule demokratisieren

Der Alltag hat die Reflexion gefressen

Lehramtsausbildung, Schule und Unterricht sollen demokratischer werden. Mitsprache und Mitgestaltung sollten selbstverständlich sein. Der ehemalige ehemaliger Referendar Dominik Heißler berichtet von den gegenteiligen Erfahrungen.

Fünf junge Menschen stehen vor einer Tafel.
Foto: stockfour / iStock

Dabei gäbe es Konzepte, wie sich alle an Schulen besser einbringen könnten. Ich bin voller Elan in meine Lehrerausbildung gestartet. Endlich Schluss mit Theorie! Endlich anwenden! Endlich lernen, ein guter Lehrer zu sein! Fachdidaktik, Pädagogik, ja sogar Schulrecht – hier bin ich und will mich einbringen.

Aber dann war es wie in der Schule: Es gibt Regeln, Vorgaben, Gewohnheiten, und am Ende lernen Notenjunkies bulimisch auf Prüfungen. Dabei weiß jeder, dass das alles andere als nachhaltig ist. Ein Beispiel: Unterrichtsbesuche haben beratende Funktion, heißt es. Sie sollen der angehenden Lehrperson helfen, ihren Unterricht zu verbessern, sich weiterzuentwickeln. Eine Begegnung auf Augenhöhe soll es sein, Stärken und Schwächen werden reflektiert, Ziele vereinbart. Soweit die Theorie.

Zu meinem ersten Unterrichtsbesuch konnte meine Fachleiterin wegen Corona nicht persönlich kommen, sie musste vom Laptop aus zuschauen. Sie konnte kaum hören, was die Schüler*innen sagten. Zudem traf ich die Klasse an jenem Tag zum ersten Mal, das Fach hatte ich bis dahin noch nicht unterrichtet. Dabei ist der erste Eindruck enorm wichtig – denn die Fachleiter*innen benoten die Lehrproben. Und diese Noten entscheiden darüber, ob ich später eine Stelle bekomme oder nicht. Damit steigt bei mir und anderen Auszubildenden der Leistungsdruck. Von wegen Vertrauen und Augenhöhe!

Mich machte das mit jedem Tag unzufriedener. Als Referendar*in fühlt man sich wie als Schüler*in: Um erfolgreich durchzukommen, müssen wir es anderen recht machen, denen, die bestimmen, was und wie wir zu lernen haben.

Keine Mitsprache. Keine Teilhabe. Keine Motivation.

Es ist höchste Zeit, die Schule und unser Bildungssystem zu demokratisieren. Dabei geht demokratische Bildung über Gemeinschaftskunde und Projekttage hinaus: Sie lässt Lernende ihren Lernprozess ergebnisoffen mitgestalten, fördert Kooperation, Reflexion und Partizipation. Darauf verweist sogar die Kultusministerkonferenz. In ihrem Beschluss zur Demokratieerziehung von 2018 heißt es unter anderem: „Schule kann und soll sich als Ort erweisen, an dem Demokratie als dynamische und ständige Gestaltungsaufgabe reflektiert und gelebt wird.“ Bisher ist das selten so. Ideen, wie Schule demokratischer werden kann, gibt es bereits viele. Aber ohne uns Lehrer*innen geht es nicht. Nur, wie sollen wir umsetzen, was wir selbst nie erfahren haben?

Ständige Bewertungen

Wir haben im Seminar unglaublich viel gelernt: Wie man eine Stunde und eine ganze Einheit minutiös plant und durchführt. Wie Wissen entsteht. Dass Lernende in ihrer eigenen Zeit und auf ihre eigene Art lernen sollten. Dass wir Stärken betonen sollen, nicht Defizite. Dass Lernwege und deren Reflexion wichtig sind. Dass Noten nicht das halten, was sie versprechen. Doch die Struktur des Referendariats widerspricht diesen Inhalten. Regelmäßig zu reflektieren habe ich zwei Monate lang geschafft – dann hat der Alltag die Reflexion gefressen. Lehrkräfte in Ausbildung haben 60-Stunden-Wochen. Wir werden ständig bewertet.

Dabei läuft ohne Frage vieles richtig. Die Ausbilder*innen an den Seminaren kennen sich pädagogisch und fachdidaktisch sehr gut aus und engagieren sich, ihr Wissen an uns weiterzugeben. Manche Seminare nutzen zudem den Spielraum gut, den sie haben. Sie bieten Modulkurse an, aus denen die Referendar*innen nach eigenen Interessen wählen können, zum Beispiel Theaterpädagogik, Akzeptanz sexueller Vielfalt, Klassenlehrer*in sein, Umgang mit Sterben und Tod in der Schule. Die Seminarleitungen setzen sich wöchentlich mit dem Ausbildungspersonalrat zusammen. Sie führen Abschlussevaluationen durch. Von mir wurden auch keine Showstunden verlangt, nicht einmal in den finalen Lehrproben.

Ideen vom Freiburger Bildungskollektiv

Doch demokratische Bildung blieb ein Randphänomen in meinem Referendariat, strukturell und inhaltlich. Ideen, das zu ändern, hat zum Beispiel das Freiburger Bildungskollektiv kairós. Der altgriechische Name bedeutet: der richtige Augenblick für gesellschaftliche Veränderung. „Das ist eigentlich immer“, sagt Henry König, den ich per Zoom-Call erreiche, und lacht. König hat den Verein kairós vor einem Jahr mitgegründet.

Nach einem erfolgreichen Crowdfunding sind sie aktuell zu zwölft: Lehrer*innen, Studierende, eine Psychologin. Die Homepage hat ein Schüler der freien demokratischen Schule Kapriole programmiert.

„Demokratie ist kein Nice-to-have, sondern wichtige Präventionsarbeit“, sagt König.

Zum einen, weil Schule ein sehr gewaltvoller Ort sein kann. Zum anderen, weil Demokratie auch angefeindet wird.

Es gebe ja auch bereits viele gute Ansätze: Methoden wie Betzavta, ein Demokratietraining aus Israel mit Schwerpunkt auf sozialem Lernen. Oder die aula-App, für die Henry König geschult ist, eine Online-Plattform, mit deren Hilfe Schüler*innen ihre Schulen demokratisch mitgestalten können. Kairós selbst setzt dort an, wo Schüler*innen die meiste Zeit verbringen: im Unterricht. Dafür bieten sie angehenden Lehrer*innen eine einjährige demokratische Weiterbildung. Die Lehrer*innen erleben dabei, wie sie selbstbestimmtes Lernen in ihren Unterricht tragen und für Diskriminierung, Machtstrukturen und Minderheiten sensibilisieren können.

König deckt noch eine weitere Lücke in der staatlichen Lehramtsausbildung auf: „Lehrer*innen reproduzieren häufig das, was sie selbst in ihrer Bildungsbiographie erlebt haben.“ Und das war eben oft: still sitzen, auf Arbeiten lernen, gute Noten einholen. In meiner Ausbildung haben wir nur sehr oberflächlich über unsere eigene Bildungskarriere reflektiert. Methoden, wie unsere Schüler*innen ihren Lernprozess eigenständig mitgestalten, haben wir kaum gelernt. Manchmal frage ich mich, ob Mitsprache und Mitgestaltung überhaupt erwünscht sind.

In der Corona-Zeit hat das Kultusministerium unsere Prüfungsordnung geändert. Dazu befragt wurden wir – ich war zu dieser Zeit Mitglied im Ausbildungspersonalrat – nicht. Aber wir wollten mitgestalten. Oder zumindest gehört werden. Die Ausbildungspersonalräte in ganz Baden-Württemberg führten Umfragen durch und schickten Vorschläge an das Kultusministerium – über ihre Seminarleitungen. Der Dienstweg musste eingehalten werden. Zwei Tage später wurde unsere Prüfungsordnung aktualisiert, ohne dass auf unsere Vorschläge eingegangen worden war. Einen Monat später erhielten wir eine Antwort. Darin stand, dass die Änderungen sicher zu unserem Besten seien.

Wie ein glückliches Referendariat geht

Dabei könnte es auch anders gehen. Als ich einer Freundin einmal vom sogenannten „glücklichen Referendariat“ erzählte, lachte sie ungläubig auf: Auch ich tue mich schwer mit der Kombination „glücklich“ und „Referendariat“. Also rufe ich den Mann an, der sich diese seltsame Verbindung ausgedacht hat: Martin Kramer. Er fragte sich, ob man das Referendariat nicht so gestalten könne, „dass die Leute wachsen, statt sie zu schleifen.“ Der Pädagoge, Buchautor und Mathe- und Physiklehrer hat deshalb vor fünf Jahren eine andere Lehramtsausbildung konzipiert.

Kramers Referendariat umfasst zahlreiche demokratische Elemente: Feedback auf der Grundlage, „wo die Person hinwachsen kann.“ Eine breite Palette an Methoden, die Referendar*innen ausprobieren müssen, um dann zu entscheiden, was davon für sie passt. Keine Noten, aber durchaus K.O. Kriterien. Viele theaterpädagogische Elemente, um die eigene Lehrperson selbst kennenzulernen. Und ganz viel Kommunikationstraining. Denn davon ist Kramer überzeugt:

„Wenn Sie die Kommunikation ändern, ändert sich alles.“

Er bezog sich auf den Unterricht, doch die Aussage lässt sich mühelos auch auf andere Ebenen des Bildungssystems übertragen.

Demokratie ist eine Zumutung. Sie fordert Geld, Kraft und Zeit. In unserem Bildungssystem fehlt es oft an allem davon. Das Referendariat ist da keine Ausnahme. Wenn wir es aber ernst meinen mit unserer ergebnisoffenen liberalen Demokratie, müssen wir sie an die Schulen und in die Klassenzimmer tragen. Lehrer*innen sollten entsprechend ausgebildet werden.

Kontakt
Maria Jeggle
Redakteurin b&w
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