Eine Erfolgsgeschichte – seit 100 Jahren
Die Grundschule darf Jubiläum feiern
Die Einführung der gemeinsamen Grundschule vor 100 Jahren war für die damalige Zeit revolutionär und sie ist bis heute die einzige ungegliederte Schulstufe. Ihre Geschichte ist ein Glücksfall.
Wenn in diesem Jahr des hundertsten Jahrestags der Weimarer Reichsverfassung gedacht wird, dann stehen Errungenschaften wie das Frauenwahlrecht im Mittelpunkt oder man erinnert daran, dass die zweite deutsche Republik schließlich doch in die Barbarei der Hitlerzeit mündete.
Diese Mischung von Fortschritt und Scheitern ist auch ein Merkmal der Schulgeschichte. So war das Jahr 1919 einerseits das Geburtsjahr der Grundschule und damit der Beginn einer bis heute wirkenden Erfolgsgeschichte, andererseits ließ die Weimarer Reichsverfassung (leider) offen, wie die Gliederung des Sekundarschulwesens erfolgen sollte. Der entscheidende erste Absatz des maßgebenden Paragrafen 146 der Weimarer Reichsverfassung lautete: „Das öffentliche Schulwesen ist organisch auszugestalten. Auf einer für alle gemeinsamen Grundschule baut sich das mittlere und höhere Schulwesen auf. Für diesen Aufbau ist die Mannigfaltigkeit der Lebensberufe, für die Aufnahme eines Kindes in eine bestimmte Schule sind seine Anlage und Neigung, nicht die wirtschaftliche und gesellschaftliche Stellung oder das Religionsbekenntnis seiner Eltern maßgebend.“
Die junge Republik setzte damit reichsweit geltende Maßstäbe für die Schulpolitik, die bis dahin ausschließlich Ländersache gewesen war. Die „für alle gemeinsame Grundschule“ brach mit der Tradition des Feudalismus und beendete den Zustand, dass die höheren Stände für sich und ihre Nachkommen eine privilegierte Privaterziehung organisieren durften. Aber dieser Durchbruch gelang nur für die Primarstufe des öffentlichen Schulwesens.
Wie der Aufbau des mittleren und höhere Schulwesens aussehen sollte, ließ die Weimarer Reichsverfassung offen. Die verfassungsbestimmende Koalition aus Sozialdemokratie, Zentrum und Liberalen besaß hierfür keinen ausreichenden Gestaltungswillen beziehungsweise war zu einer Einigung nicht fähig. Zu groß war die Spannweite der Vorstellungen und Forderungen – von der Einheitsschul-Idee der SPD bis zum Festhalten des (katholischen) Zentrums an der konfessionellen Schulform. Das hierfür vorgesehene Reichsschulgesetz kam nie zustande. Die Reichsländer machten, was sie wollten. Und nach dem Auseinanderbrechen der Weimarer Koalition war an eine Mehrheit für eine Neugliederung der Sekundarstufe des Schulwesens nicht mehr zu denken.
Segregation ist schlimmer geworden
An den Folgen dieses Bildungsföderalismus kauen wir noch heute: Kaum ein Land auf der Welt kennt eine so rigide und so frühe Segregation der Schülerinnen und Schüler wie die Bundesrepublik. Die Zehnjährigen werden auf nebeneinander bestehende und miteinander konkurrierende Schularten verteilt. Insofern ist es heute fast noch schlimmer geworden als damals im Weimarer Staat: Denn seinerzeit besuchte fast die gesamte junge Bevölkerung die „Volksschule“. Nach dem Abschluss der gemeinsamen Unterstufe wechselte nur eine kleine Minderheit der Schülerinnen und Schüler auf eine der wenigen „Mittelschulen“ oder Gymnasien, ansonsten setzte man den Bildungsweg in der Volksschule fort. Heute hingegen ist aus der Volksschul-Oberstufe die ausgezehrte Haupt- beziehungsweise Werkrealschule geworden, während die Mehrzahl der Schülerinnen und Schüler eine der „höheren“ Schularten, die Realschulen und Gymnasien, besucht.
Vor diesem Hintergrund ist die Einführung der „für alle gemeinsamen Grundschule“ in Artikel 146 Weimarer Reichsverfassung ein für die damalige Zeit revolutionärer und bis heute wirksamer Akt. Zwar dauerte es noch eine gewisse Zeit, bis die privaten Vorschulen abgewickelt waren, aber ab Mitte der zwanziger Jahre war die neue Schulart überall im Reich etabliert.
Die Grundschule der Weimarer Zeit war in der Regel vierklassig, in Württemberg überwiegend nach der Konfession getrennt, in Baden „simultan“, also für die Angehörigen aller Bekenntnisse gemeinsam. Aber ihr wesentliches Kriterium, dass dieser Teil der Volksschule für alle Kinder ohne Unterschied von Stand und Herkunft verbindlich war, ist bis heute so geblieben. Auch nach der Nazizeit wurde in den – für das Schulwesen wieder ausschließlich zuständigen – neuen Bundesländern hieran nicht gerüttelt, sondern das Prinzip der ungegliederten Primarstufe ist im Westen des geteilten Deutschlands aufrecht erhalten worden. In der DDR, wo eine zehnjährige Einheitsschule eingeführt worden war, ist nach der Vereinigung mit der Bundesrepublik dieser Grundsatz übernommen worden, dass eine äußere Differenzierung frühestens nach der vierten Klasse einsetzt, wenn man von der Separierung eines Teils der Schülerpopulation in vielfältige „Sonderschulen“ absieht, woran gerade in Baden-Württemberg die Bemühungen um eine inklusive Bildung noch recht wenig geändert haben.
Insofern ist und bleibt die Grundschule in ganz Deutschland seit „Weimar“ die einzige ungegliederte Schulstufe, sozusagen die alleinige allgemeinverbindliche Gesamtschule. Es grenzt an ein Wunder, dass sie die Segregationswut des westdeutschen Bildungswesens ungeteilt überlebt hat. Allerdings hat sie sich verändert, verjüngt, neu aufgestellt. Sie ist weiblicher geworden: Männliche Lehrkräfte sucht man in den Grundschulen mit der Lupe. Und natürlich ist sie moderner, pädagogischer geworden. Sie kann sich mit Recht rühmen, die Schulart zu sein, die von ihren Schülerinnen und Schülern überwiegend gern besucht, oftmals geliebt wird. Und auch die Eltern sind mit der Grundschule ihrer Kinder erfahrungsgemäß häufig zufrieden.
Spagat zwischen Bildung und Auslese
Aber sie krankt an strukturellen Defiziten. Da ist zuvörderst ihr elementarer Geburtsfehler: Einerseits ist sie nämlich der pädagogisch orientierte Schonraum, in dem integriert wird, in dem Chancengleichheit unmittelbar praktiziert wird, und wo Fördern vor Fordern steht. Andererseits ist sie die große Selektionsmaschine, in der über die Lebenschancen der Zehnjährigen entschieden wird. Dieser Spagat zwischen Bildung und Auslese ist für viele Lehrkräfte an den Grundschulen eine tägliche, oft kaum zu bewältigende Herausforderung.
Seit ihrem Entstehen vor 100 Jahren haben die Grundschulen eine unglaubliche Integrationsleistung erbracht. Anfangs kam es einfach nur darauf an, die Kinder aller Stände zusammenzuführen. Und schon immer bedeutete der Verzicht auf die äußere Differenzierung, dass innen ausgeglichen werden musste, was die Kinder an individueller Unterschiedlichkeit mitbrachten. Aber seit dem Zustrom vieler junger Menschen aus anderen Ländern und Kulturen ist die Grundschule auch der erste und bedeutendste Empfangsraum für die Fremden geworden und heute kommt die Aufgabe der Inklusion hinzu. Grundschulen können sich nicht erlauben, ein Kind mit der Begründung abzuweisen, es fehlten die räumlichen oder personellen Kapazitäten. Aber es stimmt leider: Die für eine gelingende Inklusion erforderliche Doppelbesetzung findet nur unzureichend statt, die Ausstattung der Räume sowie die Fortbildung lassen zu wünschen übrig und die Klassen sind viel zu groß. Dass es an den Grundschulen trotzdem in vielen Fällen geräuschlos und effektiv läuft, liegt an dem pädagogischen Eros der typischen Grundschul-Lehrkräfte, die mit zusammengebissenen Zähnen ihre Arbeit tun.
Im größten Teil ihrer hundertjährigen Geschichte war die Grundschule Teil der Volksschule und blieb auch nach der nominellen Trennung in Grund- und Hauptschule tatsächlich fast überall „nur“ die in der Regel vierjährige Unterstufe einer Schulart mit stufenübergreifendem Lehrkräfteeinsatz und unter einheitlicher Leitung. So sehr es dieser Primarstufe auch zum Vorteil gereichte, dass sie sich im Laufe der Zeit inhaltlich und methodisch-didaktisch verselbständigte, so problematisch war es andererseits, dass die Grundschulen seit mehreren Jahrzehnten eine auch äußerlich selbstständige Schulart sind. Denn spätestens seit der organisatorischen Trennung der Grundschulen von den Hauptschulen und der inzwischen ebenfalls vollzogenen Separation der Lehrerausbildung wurde die Primarstufe in vielerlei Hinsicht abgehängt. Der eigenständige Bildungsauftrag und -erfolg der Grundschule wird vielfach unterschätzt; sie wird häufig (leider bisweilen auch von den Kolleginnen und Kollegen der Sekundarstufe) als Zubringeranstalt für die weiterführenden Schularten verkannt und sogar missachtet.
Die Folge: Die Lehrkräfte an Grundschulen habe eine geringere Bezahlung, dafür aber ein höheres Deputat als die wissenschaftlichen Lehrkräfte der anderen Schularten. Seit der Einführung der Verlässlichkeit der Grundschule (ohne entsprechende Aufstockung des Personals und eine feste, verbindliche und ausreichende Lehrerreserve) sind Vertretungen und Überstunden zum Alltag geworden. Da die Grundschulen oft recht kleine Systeme sind, wirkt sich hier der Ausfall einer Lehrkraft gravierender aus, aber weil ein recht hoher Anteil der Grundschul-Lehrkräfte in Teilzeit arbeitet, wird es offenbar als zumutbar betrachtet, einfach hier oder dort eine Stunde mehr abzuleisten. Obwohl auch an einer kleinen Schule viele Leitungsaufgaben in gleicher Weise erfüllt werden müssen wie an größeren Einrichtungen, liegt die Honorierung der Schulleitungen an Grundschulen niedriger und erhalten sie eine geringere Anrechnung auf ihre Unterrichtstätigkeit. Vielfach findet sich für frei gewordene Leitungsstellen kein Nachwuchs mehr.
Die Grundschule und ihr Personal darf einerseits stolz auf eine hundertjährige Erfolgsgeschichte schauen. Aber sie muss auch eine permanente Vernachlässigung beklagen. Vielleicht sollten die Kolleginnen und Kollegen an den Grundschulen nicht nur so tapfer, fleißig und geräuschlos ihre Pflicht tun, sondern öfter den Mund auftun, sich stärker (in der GEW) organisieren und einfordern, dass sie für ihre gute Arbeit angemessen behandelt und entlohnt werden.