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Drei Fragen an ... Dr. Michael Blume, Antisemitismusbeauftragter der Landesregierung

Dr. Michael Blume, Antisemitismusbeauftragter der Landesregierung, beantwortet der „Schulleitung“ drei Fragen zum Thema Antisemitismus und insebsondere dessen Bedeutung an Schulen.

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Herr Dr. Blume, Sie sind der Beauftragte der Landesregierung gegen Antisemitismus.
Wie wichtig ist Ihre Rolle in einem Land wie Baden-Württemberg und hier speziell auf
die Schulen bezogen?

Indem mich die jüdischen Landesgemeinden von Baden und Württemberg bei Ministerpräsident Kretschmann für das Amt vorschlugen – übrigens ohne mich vorher zu fragen – rückten sie mich auch an die Schulen. Denn in der jüdischen Bibelauslegung gilt der Noahsohn Sem gerade nicht als Begründer einer wissenschaftlich gar nicht existierenden „Menschenrasse“ oder einer Sprachgruppe, sondern als erster Gründer einer Schule mit Alphabetschrift. Das Judentum war die erste Religion, die die Alphabetisierung für alle Kinder als göttliches Gebot verkündete. Der Begriff „Bildung“ wurde daher auch von Rabbi  Maimonides und dem christlichen Gelehrten Meister Eckhart direkt aus 1. Mose 1, 27 abgeleitet: Jedes Kind sei von Anfang an „im Bilde Gottes“ geschaffen. Synagogen sind bis heute im wesentlichen Lehrhäuser, in deren Mitte die Thora aus 304.805 handgeschriebenen Alphabet-Schriftzeichen steht. Wer diese erstmalige Bildungsorientierung einer Religion verstanden hat, erfasst, warum auf heute rund 0,2 Prozent jüdischen Anteil an der Weltbevölkerung über 20% aller bisherigen Nobelpreise entfallen sind. Das hat nichts mit Verschwörung oder Genen zu tun, aber alles mit einer langen und tiefen Förderung von Bildung. Diese sehr schöne Tradition brachte aber schon in der Antike auch Neid, Hass und schließlich Verschwörungsmythen mit sich – den Antijudaismus und später rassistischen Antisemitismus.
Während in allen anderen Fällen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit wie Rassismus, Antiziganismus oder Sexismus die betreffende Gruppe abgewertet wird, werden Juden für besonders schlau, reich und mächtig gehalten. Deswegen ist der Antisemitismus praktisch immer mit Verschwörungsglauben verbunden, radikalisiert sich fortlaufend selbst und kann sich dann auch konkret gegen Ärztinnen, Politiker, Lehrerinnen und Migranten richten.

In Baden-Württemberg haben wir über 4.000 Schulen, so dass ich leider beim besten Willen nicht alle besuchen kann. Aber ich versuche so oft es geht sprechend und schreibend Lehrkräfte
zu erreichen und zu unterstützen. Denn aus der Forschung wissen wir, dass wir menschenfeindliche Überzeugungen bei jungen Menschen noch verändern können, während sie sich bei älteren Menschen zunehmend verhärten. Eine gute, sensibilisierende Schulbildung bietet Kindern daher einen Schutz für ihr ganzes späteres Leben. Aus dieser Perspektive haben Sie einen der wichtigsten Berufe der Menschheit gewählt, sind Kolleginnen und Kollegen von Sem.

In einer Studie der Universität Leipzig zu Antisemitismus in Zeiten von Covid-19 wurde festgestellt, dass auch in Baden-Württemberg die latente Zustimmung zu einer tradiert antisemitischen Aussage dreimal so hoch liegt, wie zu einer manifesten Zustimmung. Wie können Lehrerinnen und Lehrer Ihre Kinder bereits früh für dieses Thema sensibilisieren?

Wir haben Jahrzehnte der Holocaust-Pädagogik hinter uns, die die Schuld der NS-Generationen zunehmend thematisierte, aber auch die Begegnung mit Überlebenden der Schoah kannte. Beides wirkt heute nicht mehr – für die jungen Generationen ist die NS-Zeit ferne Geschichte und ein wachsender Teil hat Vorfahren, die damals gar nicht in Deutschland lebten. Der Weg nach vorne ist also aufzuzeigen, dass es nicht um Schuldgefühle, sondern um Verantwortung für die eigene Zukunft geht. Möchtest Du in einer Gesellschaft leben, in der sich Menschen gegenseitig der Verschwörung beschuldigen, aufgrund der Religion, Hautfarbe und Herkunft hassen? Oder möchtest Du eine Zukunft, in der Du frei bist, Dich zu bilden, Dein Leben zu gestalten und auch über Grenzen hinweg zu lieben? Wenn ich die Geschichte des Antisemitismus vermittele, dann tue ich das über die Mediengeschichte:Die Bedeutung der Alphabetisierung, Buchdruck mit Bildungsexplosion, aber auch Hexenwahn und Antisemitismus – bei Luther sogar all dies zugleich -, die elektronischen Medien von Bismarcks Emser Depesche bis hin zu Radio und Film bei den Nationalsozialisten, schließlich die Chancen und Gefahren der Digitalisierung. Denn all diese Medien gehören zur heutigen Realität der Kinder und sprechen sie an. Auf meinem Podcast „Verschwörungsfragen“ finden Sie in Folge 15 als Ton und Text ein 2-stündiges Unterrichtsmodul, mit dem
ich in Klassen 7 bis 12 sehr gute Erfahrungen gemacht habe. 

Schule ohne Antisemitismus. Welchen Einfluss können Schulleiterinnen und Schulleiter auf eine aufgeklärte, offene Atmosphäre an ihrer Schule nehmen?

Ich glaube, dass der beste Beitrag von Lehrerinnen und Lehrern darin bestehen kann, bei sich selbst anzufangen. Denn wie alle anderen Menschen haben auch wir Studierten unsere Klischees und Vorurteile – und sind sogar besonders gut darin, sie zu rationalisieren. Sich die Zeit für ein gutes Buch und ein gutes Gespräch zu nehmen, um sich mit eigenen antisemitischen, rassistischen und sexistischen Überzeugungen auseinander zu setzen, bringt uns persönlich weiter – und verändert unseren Umgang miteinander. Ich war am Anfang etwas verstört darüber, wie viele Anfragen und wieviel Hass es auch zu der Tatsache gab, dass ich als Christ mit einer Muslimin verheiratet bin und von den jüdischen Gemeinden vorgeschlagen wurde. Langsam habe ich dann begriffen, dass Menschen nicht belehrt werden wollen,
sondern sehr genau auf die Persönlichkeiten der Lehrenden schauen. Wenn wir bereit sind, uns selber weiter zu bilden, dann wirkt sich dies glaubwürdig auf unsere Mitwelt aus.