Arbeitszeit von Lehrkräften
Erfassung der gesamten Arbeitszeit ist notwendig
In zwei Urteilen haben der Europäische Gerichtshof und das Bundesarbeitsgericht grundsätzlich eine Erfassung der gesamten Arbeitszeit verlangt. Wie wirken sich diese Urteile auf die Erfassung der Arbeitszeit von Lehrer*innen aus?
Die Urteile des Europäischen Gerichtshofs (EuGH 2019) und des Bundesarbeitsgerichts (BAG 2022) zur Arbeitszeiterfassung sind grundsätzlicher Natur und beziehen sich nicht spezifisch auf Lehrkräfte. Sie sind beide eine Reaktion auf eine vierzigjährige Deregulierung und Flexibilisierung der Arbeitszeit als Ausdruck einer neoliberalen Wirtschaftspolitik.
Ein Kulminationspunkt ist dabei die „Vertrauensarbeitszeit“. Hier wird abhängig Beschäftigten die Arbeitszeitzeit pauschal zugewiesen, ohne sie präzise zu erfassen und abzurechnen. Letztlich ist es Sache der Beschäftigten, die anfallenden Aufgaben in der zur Verfügung stehenden Arbeitszeit zu erledigen.
Schutzfunktion
Die beiden Urteile betonen die Schutzfunktion für die Beschäftigten, die eine Erfassung der Arbeitszeit hat. Im Kern geht es um zwei Aspekte:
- Abhängig Beschäftigte „verkaufen“ ihre Arbeitskraft und diese wird in Zeit gemessen. Vertrauensarbeitszeitmodelle beziehungsweise ein Verzicht auf Arbeitszeiterfassung bergen die Gefahr der unbezahlten Mehrarbeit, also einer versteckten Lohnkürzung.
- Unkontrollierte Mehrarbeit birgt die Gefahr der Mehr- oder Überlastung. Das BAG begründete sein Urteil mit dem Arbeitsschutzgesetz und dem europäischen Recht, das zwingend angewandt werden müsse.
Bundesarbeitsminister Hubertus Heil hat mittlerweile einen Gesetzesentwurf zur Umsetzung vorgelegt, der zunächst nur für Tarifbeschäftigte gilt. Der EuGH bezieht sich in seinem Urteil auf Artikel 31 der Europäischen Grundrechtscharta, der allen Beschäftigten eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit garantiert. Es gibt deshalb keinen sachlichen Grund, Beamt*innen oder Lehrkräfte von einer Arbeitszeiterfassung auszunehmen – außer der Tatsache, dass die öffentlichen Arbeitgeber auch weiterhin auf unbezahlte Mehrarbeit zurückgreifen wollen.
Lehrkräftearbeitszeit und ihre Problematik
Als Beamt*innen müssen Lehrkräfte durchschnittlich 41 Zeitstunden pro Woche arbeiten. Bei circa 44 Arbeitswochen (52 Kalenderwochen abzüglich sechs Wochen Urlaub und circa zwei Wochen Feiertage) ergeben sich so circa 1.800 Zeitstunden im Jahr. Tatsächlich gibt es aber bislang kein Instrumentarium, um die Einhaltung der Soll-Arbeitszeit zu gewährleisten.
Diese Arbeitszeit wird aufgeteilt in:
- Den Unterricht: Bei 25 Deputatsstunden in circa 38 Unterrichtswochen entspricht dies 950 Unterrichtsstunden oder 712,5 Zeitstunden, circa 40 Prozent der Jahresarbeitszeit. Dieser Teil der Arbeitszeit ist zeitlich festgelegt und kann selbstverständlich gemessen und abgerechnet werden.
- Den „nichtunterrichtlichen Teil“ der Arbeitszeit (alles andere): Dies entspricht dann 1091,5 Zeitstunden. Dieser Teil der Arbeitszeit wird den Lehrkräften faktisch als Vertrauensarbeitszeit zugewiesen.
Das „Deputatsstundenmodell“ stammt aus dem 19. Jahrhundert und birgt gravierende Probleme. Es unterstellt, dass die Arbeit von Lehrkräften letztlich nur aus Unterricht und Vor- und Nachbereitung besteht. Tatsächlich ist Lehrkräftearbeit längst mehr.
Alle Arbeitszeitstudien der vergangenen Jahre machen deutlich, dass Lehrkräfte im Durchschnitt mehr als die geforderten Soll-Zeitstunden im Jahr arbeiten und dass die Ausweitung primär im Bereich der sonstigen Tätigkeiten (also keineswegs beim Unterricht oder der Vor- und Nachbereitung) stattgefunden hat.
Hier folgt das Kultusministerium (KM) dem Prinzip: Wenn eine zusätzliche Aufgabe ansteht, dann muss sie gemacht werden, ohne dass sich der Arbeitgeber Gedanken darüber machen muss, woher die dafür notwendige Arbeitszeit kommt. Anrechnungsstunden gleichen dies nur teilweise aus – sie sind zudem in den vergangenen Jahren gekürzt worden.
Diese Situation wird sich in den kommenden Jahren eher verschärfen. Einerseits wird, bedingt durch den Lehrkräftemangel, der Druck auf die Arbeitszeit zunehmen; andererseits will das KM zum Beispiel die Schul- und Qualitätsentwicklung forcieren, was zwangsläufig Mehrarbeit im nichtunterrichtlichen Bereich nach sich zieht.
Eine wirksame Begrenzung der Arbeitszeit ist deshalb ein Gebot der Stunde!
Änderungen der Arbeitszeitregelung
Eine Arbeitszeiterfassung wird selbstverständlich Änderungen in der derzeitigen Arbeitszeitregelung bedeuten. Notwendig ist aber sachliche Debatte, Schreckensszenarien helfen nicht.
Sinnvoll ist es, zunächst zu klären, was eine Arbeitszeiterfassung nicht (!) bedeutet:
- Solange Unterricht in Unterrichtsstunden organisiert wird, wird es die Festlegung eines Deputates innerhalb der Gesamtarbeitszeit geben müssen, um die Unterrichtsversorgung sicherzustellen.
- Es gibt keinen Zusammenhang zwischen Arbeitszeiterfassung und einer Faktorisierung des Deputates (unterschiedliche Gewichtung von Deputatsstunden nach Fächern oder Schulstufen – das sogenannte „Hamburger Modell“).
- Arbeitszeiterfassung bedeutet keine Präsenzpflicht an der Schule. Gerade nach Corona wurden Homeoffice-Modelle auch in anderen Bereichen massiv ausgeweitet.
- Arbeitszeiterfassung bedeutet keine zeitliche Festlegung auf bestimmte Tage etc. Flexible Modelle im Bereich des Nicht-Unterrichtes wären auch dann möglich.
- Die Urteile verlangen eine Erfassung der tatsächlich geleisteten Arbeitszeit, nicht der während dieser Arbeitszeit erledigten Aufgaben. Sie lassen insoweit auch eine Selbstauskunft zu, eine Leistungskontrolle ist nicht die Konsequenz.
Notwendige Änderungen
An anderen Stellen gibt es allerdings Veränderungsbedarf. Dazu einige Hinweise, sie sind keine abschließende Auflistung:
- Durch eine Arbeitszeiterfassung kann Mehrarbeit nicht nur beim Unterricht (MAU) sondern auch im Bereich des „Nicht-Unterrichtes“ entstehen. Deshalb sind Regelungen zur Abgeltung der Mehrarbeit (Zeit-Geld) notwendig. Bei einer Festlegung eines Jahresarbeitszeitkontos muss zwischen flexiblen Arbeitszeiten im Rahmen einer möglichen Jahresarbeitszeit (Zeitausgleich) und einer Abgeltung von tatsächlicher Mehrarbeit unterschieden werden.
- Eine Arbeitszeiterfassung bedeutet eine Begrenzung beziehungsweise Einhaltung der Arbeitszeit und nicht automatisch eine Begrenzung der Aufgaben. Eine Definition der Aufgaben einer Lehrkraft ist deshalb nötig.
- Eine mögliche Debatte über die Effizienz von Lehrkräftearbeit ist nicht zwingend, aber möglich. Eine solche Diskussion kann sinnvoll sein. Einige Beispiele – auch nach Corona:
- Baden-Württemberg leistet sich deutschlandweit das aufwändigste Korrekturverfahren beim Abitur. Während Corona ging das auch anders.
- Mittlerweile ist es akzeptiert, dass ein Teil der Lehrkräftefortbildungen auch digital stattfindet. Für viele bedeutet das eine Einsparung von Arbeitszeit (Fahrtzeiten).
- Die bisherige Regelung, dass die sechs Wochen Jahresurlaub pauschal mit den Ferien abgegolten werden, wäre nicht mehr haltbar. Lehrkräfte müssten dann, wie alle anderen Beschäftigten, ihren Urlaub einreichen beziehungsweise festlegen. Damit würde eine klarere Trennung zwischen Urlaub und unterrichtsfreier Zeit erfolgen. Dies kann auch dazu führen, der oft praktizierten Verdichtung der Arbeitszeit in den Unterrichtswochen entgegenzuwirken.
- Eine Arbeitszeiterfassung verlangt nicht zwingend die Festlegung von täglichen oder wöchentlichen Arbeitszeiten, eine Definition von Kernarbeitszeiten über den Unterricht hinaus ist aber durchaus sinnvoll, um zum Beispiel einer Verdichtung der Arbeitszeit in bestimmten Unterrichtswochen entgegenzuwirken.
Eine Arbeitszeiterfassung wird sicherlich zu großen Veränderungen führen und auch an der einen oder anderen Stelle Flexibilität einschränken. Allerdings sollte man sich keiner Illusion hingeben: Die bisherige Flexibilität nutzt vor allem dem Arbeitgeber, weil er zusätzliche Aufgaben definieren kann, ohne sich Gedanken über die Arbeitszeit zu machen. Wäre dem nicht so, hätte das KM die bestehende Regelung längst gekippt.