Zum Inhalt springen

Internationaler Frauentag am 8. März

„Es ist unsere Aufgabe, dranzubleiben“

Am 19. Januar 1919 durften Frauen zum ersten Mal wählen. Wir haben 100 Jahre später mit der Vorsitzenden des Landesfrauenrats, Charlotte Schneidewind-Hartnagel, über die gescheiterte Wahlrechtsreform in Baden-­Württemberg geredet.

Protestaktion des Landesfrauenrats am 8. März 2018: Landtagspräsidentin Muhterem Aras (dritte von links) und Charlotte Schneidewind-Hartnagel (Mitte)
Protestaktion des Landesfrauenrats am 8. März 2018: Landtagspräsidentin Muhterem Aras (dritte von links) und Charlotte Schneidewind-Hartnagel (Mitte)

Am 8. März ist Internationaler Frauentag. Schon seit über 100 Jahren streiken, streiten und kämpfen Frauen für ihre Rechte und gegen jede Form von Benachteiligung, Ausbeutung und Unterdrückung.

Egal, in welchem Land sie leben, welche Herkunft sie haben – immer mehr (junge) Frauen beteiligen sich an unterschiedlichen Kämpfen, wenn es um die Umsetzung und Erfüllung ihrer Forderungen geht.

Am 8. März 2019 findet eine bunte Demo mit vielfältigen Aktionen statt:

  • Freitag, 8. März 2019 in Stuttgart:
    ab 16:00 Uhr Kundgebung, Infostände und Aktionen auf dem Schlossplatz
    ab 17:30 Demobeginn am Rotebühlplatz

Wahlrechtsreform in Baden-Württemberg

Am 19. Januar 1919 durften Frauen zum ersten Mal wählen. Wir nehmen das historische Ereignis als Anlass, um mit der Vorsitzenden des Landesfrauenrats und ehemaligen Landtagsabgeordneten der Grünen, Charlotte Schneidewind-Hartnagel, über die gescheiterte Wahlrechtsreform in Baden-­Württemberg zu reden.

Das baden-württembergische Landtagswahlrecht ist im Ländervergleich einzigartig, vor allem durch eine Besonderheit: Jede Wählerin und jeder Wähler verfügt nur über eine Stimme. Diese geht direkt an den Kandidaten oder die Kandidatin des Wahlkreises. Nachdem die Direktmandate für die 70 Wahlkreise auf diese Weise vergeben worden sind, bleiben noch 50 weitere Sitze im Landtag zu besetzen. Sie werden unter den „unterlegenen“ Kandidierenden der Wahlkreise verteilt, geordnet nach Regierungsbezirk und Partei. Zuerst zum Zug kommt, wer relativ gesehen den höchsten Anteil an den Stimmenzahlen aller Bewerber und Bewerberinnen pro Wahlkreis erringen konnte.

Im aktuellen baden-württembergischen Landtag sind 24,5 Prozent weibliche Abgeordnete. Das ist der niedrigste Anteil von allen Landesparlamenten in Deutschland. Können Sie uns erklären, wie das 100 Jahre nach Beginn des Frauenwahlrechts sein kann?

Charlotte Schneidewind-Hartnagel: Das liegt natürlich nicht an den ­Frauen in Baden-Württemberg, sondern vor allem an dem Landtagswahlrecht, das wir hier immer noch haben. Schon bei der Kandidatenaufstellung in den Wahlkreisen gibt es einen ­großen Männerüberhang. Da fängt das Problem bereits an.

Die Grünen schaffen auch im bestehenden Wahlrecht eine recht gute Geschlechterparität. Wäre das nicht auch ein Modell für die anderen Parteien, dann müsste man das Wahlrecht gar nicht ändern.

Schneidewind-Hartnagel: Das würde funktionieren, wenn alle Parteien eine Quotierung hätten, die bindend ist. Am Beispiel der kommenden Europawahl kann man aber bei der CDU sehen, wie es läuft. Erst auf Platz 5 steht Inge Gräßle, eine sehr ­erfahrene und erfolgreiche CDU-Politikerin im Europaparlament. Vor ihr kommen vier Männer. Platz 5 ist dieses Mal kein sicherer Platz, so dass es sein kann, dass Frau Dr. Gräßle nicht wieder ins Europaparlament einzieht. Mit einer ­quotierten Europaliste würden mindestens zwei Frauen für die CDU in das Europaparlament kommen. Bei anderen Parteien sieht es ähnlich aus.

„Wir haben nicht nur zu wenig Frauen, wir haben auch zu wenig junge Leute und zu wenig unterschiedliche Lebenshintergründe im Parlament.“ (Charlotte Schneidewind-Hartnagel)

Sie waren frauenpolitische ­Sprecherin der Grünen Landtagsfraktion. Im Koa­li­tionsvertrag wurde eine Wahlrechtsreform vereinbart. Wie haben Sie die Diskussion um die Wahlrechtsreform erlebt?

Schneidewind-Hartnagel: Es war gar keine Diskussion. Im Koalitionsvertrag ist eindeutig formuliert, dass das bestehende Direktwahlrecht zu einem Listenwahlrecht verändert wird. Ich war davon überzeugt, dass damit die Reform in dieser ­Legislaturperiode sicher ist. Dann kam im April 2018 völlig überraschend ein Beschluss der CDU-Fraktion, dass sie diese Vereinba­rung nicht einhalten werden. Für sie ist das Thema erledigt. Die Fraktion hat alle Alternativvorschläge der Grünen für eine Wahlrechtsreform abgelehnt.

Der Beschluss verursachte große Em­­pörung im Landesfrauenrat. Als Vorsitzende der Frauenunion hat auch Frau Gräßle den Fraktionsbeschluss scharf kritisiert. Das hat ihr nicht unbedingt Freunde geschaffen und die Frage ist, ob ihr 5. Platz auf der Europaliste nicht auch eine Folge des Konfliktes sein könnte.

Ich finde es für das Vertrauen in einen Koalitionsvertrag auf jeden Fall sehr fragwürdig, wenn ein Vertragspartner einfach beschließt, einen Teil davon nicht umzusetzen.

Aber offensichtlich kommt die CDU-Fraktion damit durch, obwohl ein Koalitionsbruch auch zur Auflösung der Koalition führen kann.

Schneidewind-Hartnagel: Dazu war das Thema nicht wichtig genug.

Bürger/innenforum soll Empfehlung für Landtag erarbeiten

Sie sind Vorsitzende des baden-württembergischen Landesfrauenrats. Partei­über­­greifend sind hier rund 50 Mitgliedsverbände mit mehr als zwei Millionen weiblichen Mitgliedern organisiert. Der Verband fordert seit langem eine substanzielle Reform des Landtagswahlrechts. Geben sich die Frauen jetzt geschlagen?

Schneidewind-Hartnagel: Nein. Es ist unsere Aufgabe, mit allen Organisationen, die sich dafür ­einsetzen, dranzubleiben. Wir wollen jetzt das komplexe, sperrige Thema für die breite Bevölkerung nochmals publik machen und fordern, dass ein sogenanntes Bürger/innenforum eingerichtet wird. Mit diesem Forum soll eine zufällige, repräsentative Auswahl an Bürger/innen unter Anleitung von Expert/innen eine Empfehlung für den Landtag erarbeiten. Die Empfehlung ist zwar nicht bindend, die Fraktionen müssen sich aber dazu verhalten. Für die Altersversorgung der Landtagsabgeordneten gab es vor einem Jahr schon einmal ein Bürger/innenforum.

Bis jetzt wurde das Forum nicht eingerichtet, weil es dafür im Landtag keine Mehrheit gibt. Wir fordern es aber weiterhin. Vor allem jetzt, wo auf den Feierlich­keiten zu 100 Jahre Frauenwahlrecht immer gesagt wird, wie großartig es sei, dass ­Frauen sich das Wahlrecht erkämpft hätten.

Wie kann es sein, dass Frauen immer noch einen so langwierigen, ­schwierigen Weg gehen müssen, bis sie zu ihrem Recht kommen?

Schneidewind-Hartnagel: Diejenigen, die über das jetzige Wahlrecht ihren Sitz im Parlament erhalten haben, haben kein Interesse daran, dieses Wahlrecht zu ändern. Es könnte ja bedeuten, dass sie ihren Sitz bei einem anderen Wahlverfahren verlieren.

Das bestehende Wahlrecht führt zusätzlich zu einem Demokratiedefizit. Wir haben nicht nur zu wenig Frauen, wir haben auch zu wenig junge Leute und zu wenig unterschiedliche Lebenshintergründe im Parlament. Der durchschnittliche Landtagsabgeordnete ist männlich und über 50 Jahre alt. Für die CDU kommt „aus dem ländlichen Raum“ dazu. In den Städten gewinnt die CDU keine Direktmandate mehr. Auch das könnte über eine Landesliste geändert werden. Die Zufallsauswahl der Kandidaten im Wahlkreis wird der repräsentativen Demokratie nicht gerecht.

Ist die Forderung nach einem Bürger/innenforum eine Verzweiflungstat?

Schneidewind-Hartnagel: Nein! Man braucht eine hohe Frustrationsschwelle. Was wäre denn die Alternative? Wenn wir nicht dranbleiben, passiert nichts. Wir werden vehement das Bürger/innenforum fordern und bei jedem Vortrag und jedem Festakt zu 100 Jahre Frauenwahlrecht darauf hinweisen. Ich sehe die Einsetzung eines Bürger/innenforums als Bringschuld derjenigen, die den Koalitions­vertrag unterschrieben haben und nun nicht umsetzen. Und die nächste Landtagswahl wird alle Parteien vor die Frage stellen, was versprechen wir den Frauen diesmal?

Das Interview führten Ute C. v. Widdern und Maria Jeggle.

Kontakt
Manuela Reichle
Referentin für Hochschule und Forschung; für Frauen-, Geschlechter- und Gleichstellungspolitik; gewerkschaftliche Bildung
Telefon:  0711 21030-24