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BISS-Transfer

Gutes Konzept – mangelnde Kommunikation

Ab September müssen alle Grundschulen ein verbindliches Programm zur kontinuierlichen Leseförderung in allen Klassen erarbeiten und vorlegen. Das Kultusministerium drängt zum Programm BISS-Transfer. Das stellt die Grundschulen vor Probleme.

Viele Kinder sitzen auf dem Boden und lesen ihre Schulbücher.
Foto: BraunS / iStock

Das Kultusministerium (KM) hat eine verbindliche Regelung für Leseförderung in allen öffentlichen Grundschulen erlassen. Im Rahmen des Deutschunterrichts müssen die Grundschulen zum nächsten Schuljahr die Leseförderung in allen Klassen durchführen. Dazu müssen sie Förderbänder, die zwei Mal in der Woche jeweils mindestens 20 Minuten dauern, in den Stundenplan einbauen. Diese Förderung soll inhaltlich ein sogenanntes Leseband darstellen. Die Umsetzung und Aufnahme der Förderbänder ins Schulprofil sind verbindlich.

So will das KM die Schlüsselkompetenzen wie Lesen und Zuhören stärken, die Zahl der Schüler*innen reduzieren, die die Mindeststandards in diesen Bereichen nicht erreicht haben, und mehr Bildungsgerechtigkeit schaffen.

Für die verbindliche Einführung der Leseförderung haben die Schulen zwei Möglichkeiten:

  • Sie können in das Programm BISS-Transfer einsteigen oder
  • dem Staatlichen Schulamt (SSA) im Schuljahr 2023/2024 ein schuleigenes Lesekonzept vorlegen.

Was ist BISS-Transfer?

„Bildung durch Sprache und Schrift“ (BiSS) ist eine gemeinsame Initiative von Bund und Ländern zum Transfer von Sprachbildung, Lese- und Schreibförderung in Schulen und Kitas. Die Initiative wurde 2013 gestartet und wird bis 2025 fortgesetzt. In Baden-Württemberg nehmen bisher rund 400 Grundschulen an BISS-Transfer teil.

Ein Kommentar von Ricarda Kaiser, stellvertretende GEW-Landesvorsitzende

BISS-Transfer ist als Initiative von Bund und Ländern ein sinnvolles Konzept. Es bietet ein systematisches Verfahren für die Leseförderung mit Leseverlaufsdiagnose. Die Schüler*innen erwerben so Lesestrategien und bekommen mehr Zeit, um das Lesen in der Schule zu üben. Das ermöglicht ihnen einen kompetenteren Umgang mit Texten und sie erleben sich beim Lesen wirksamer. BISS-Transfer kann so Grundschullehrkräfte dabei unterstützen, die Lesekompetenz genauer zu betrachten und die Schüler*innen besser zu fördern.

Das KM hat allerdings eine große Chance vertan, die Grundschulen zu unterstützen und zu motivieren. Durch den engen Zeitplan und die harten Vorgaben im Erlass verpflichtet es die Schulen praktisch, genau dieses Programm einzuführen. Das schadet der Akzeptanz der Leseförderansätze. Und auch wenn das KM in den Dienstbesprechungen darauf hingewiesen hat, dass die Schulen entscheiden können, mit welchem Konzept sie die Lesekompetenz fördern wollen, wurde dies den Schulleitungen über die Staatlichen Schulämter anders kommuniziert. So gibt es an vielen Schulen Widerstand gegen die übereilte Einführung des Konzepts. Viele Grundschulen haben bereits Förderbänder eingerichtet oder eigene Leseförderkonzepte erstellt. Durch die kurzen Fristen können diese Schulen das eigene Konzept nicht in der von der Schulverwaltung geforderten Systematik vorlegen.

Über 5.000 Lehrkräfte haben schon an den Onlineveranstaltungen des ZSL zu BISS-Transfer teilgenommen. Inzwischen haben sich auch fast alle Grundschulen zu BISS-Transfer angemeldet. Beides wird vom KM als großer Erfolg empfunden. De facto fühlen sich viele Grundschulen allerdings schlicht verpflichtet, BISS-Transfer einzuführen.

Für die Unterstützung vor Ort stehen den über 2.000 teilnehmenden Grundschulen aktuell nur 60 Sprach­bildner*innen zur Verfügung. Sie können beim ZSL für konkrete Unterstützung von den Schulen angefragt werden. Das reicht nicht. Um die Stärken von BISS-Transfer wirksam zu machen, hätte das KM auf die verbindliche Einführung verzichten sollen, die eine Freiwilligkeit nur suggeriert. Eine gute Kommunikation auf allen Ebenen und ein Mitnehmen der Personen, die das Leseförderkonzept vor Ort umsetzen, hätte zu einer deutlich höheren Akzeptanz und Motivation geführt. Für künftige Vorhaben des KM wäre mehr Zeit bei der Einführung und eine schnelle und wirksame Unterstützung der Schulen durch Expert*innen ein besserer Weg. Das käme auch den Schüler*innen in den Grundschulen zugute.

Zum Schuljahr 2023/2024 können alle Grundschulen in BISS-Transfer einsteigen. Die Teilnahme am Projekt ist freiwillig. Die Schulleitung und das Kollegium müssen die Verankerung eines Leseförder­konzepts an der Schule als gemeinsame Schulentwicklungsaufgabe ansehen. Deshalb muss vor einem Einstieg die Gesamtlehrerkonferenz zustimmen und die Schulkonferenz darüber informiert werden. An jeder Grundschule muss eine Deutschlehrkraft als Ansprechperson benannt werden, die die ­Information, Organisation und Kommunikation im Kollegium übernimmt.

Leseförderung ohne BISS-Transfer

Schulen können auch ein eigenes schulinternes Lesekonzept umsetzen. Dann müssen sie im Laufe des nächsten Schuljahrs dieses Konzept dem SSA vorlegen.

Von Ruth Zacher, GEW-Landespersonengruppe Schulleitungen

Das Kultusministerium hat sich die Stärkung der Grundschulen auf die Fahnen geschrieben. Dazu werden momentan viele Daten erhoben und zahlreiche Projekte entwickelt. Wir geben einen Überblick.

Was zum Schuljahr 2023/2024 eingeführt wird

BISS-Transfer: Hier geht es um verbindliche Förderbänder mit BISS-Transfer oder einem schuleigenen Lesetraining. Dabei werden die basalen Kompetenzen im Lesen gefördert. Es gibt eine verbindliche Lesezeit von zwei mal 20 Minuten pro Woche, die im Stundenplan verankert ist.

Lernstand 2: Wird vorerst freiwillig eingeführt. Dadurch erhalten die Schulen für den Bereich Lesen eine fundierte Diagnostik, die ihnen Hinweise und Hilfen für eine gezielte Förderung ermöglicht.

Kompass 4: Wird ebenfalls vorerst freiwillig eingeführt. Damit wird der Leistungsstand in Deutsch und Mathematik festgestellt. Kompass 4 orientiert sich an den bildungspolitischen Kompetenzen und ist einfach in den Unterricht zu integrieren. Eine Benotung ist nicht vorgesehen. Durch die differenzierte Auswertung werden die Lehrkräfte für die Beratung der Eltern gestärkt. Die Eltern erhalten dadurch eine weitere Einschätzung für die Entscheidung beim Übergang in die weiterführenden Schulen.

Schulversuche

Lernförderliche Leistungsrückmeldung: Zum neuen Schuljahr starten weitere acht Schulen. Insgesamt sind dann 43 Grundschulen in Baden-Württemberg im Schulversuch „lernförderliche Leistungsrückmeldungen“. Die Schulen, die aktuell schon dabei sind, konnten ihre Rückmeldungen und Kritikpunkte einbringen. Diese wurden aufgenommen und mit den Schulen verändert.

Multiprofessionelle Teams: Auf Grundlage des vorläufigen Sozialindexes wurden in acht Schulämtern je zwei Schulen ausgewählt, multiprofessionelle Teams an Grundschulen aufzubauen. Die acht betroffenen Schulämter sind Mannheim, Pforzheim, Stuttgart, Göppingen, Biberach, Albstadt, Offenburg und Konstanz. Die Personalgewinnung findet über LOBW (Lehrer Online Baden-Württemberg) statt und der Modellversuch wird über das IBBW evaluiert.

Kooperation

Wir.Lernen – Grundschulen in Baden-Württemberg sichern Basiskompetenzen: Ein Kooperationsprojekt mit der Robert-Bosch-Stiftung soll ermöglichen, dass alle Schüler*innen am Ende von Klasse 4 in Mathematik und Deutsch die Mindeststandrads erreichen. Der Schwerpunkt liegt auf der Netzwerkarbeit unter den Schulen, die an dem Projekt teilnehmen, sowie auf der Arbeit an den Basiskompetenzen der Schüler*innen. Das Konzept basiert im Rahmen der Netzwerkarbeit auf dem kanadischen Ansatz „Familiy of Schools“.

In Planung

Sprachförderung an der Schnittstelle Kita-Grundschule: Geplant ist ein Konzept, das den vorschulischen Bereich und die Sprachförderung in der Grundschule miteinander verbindet.

Musikbetonte Grundschule: Das ist im Koalitionsvertrag festgehalten und wird in den nächsten zwei Jahren erarbeitet.

TiGS (Theater in der Grundschule): Das Projekt läuft für einzelne Schulen ab dem nächsten Schuljahr. Durch die Zusammenarbeit und Kooperation mit dem Landesverband Theater in Schulen und der Morpho Foundation wird Theaterarbeit im Unterricht verankert.

Mind Matters: Das ist ein bundesweites Präventionsprogramm zur Förderung der psychischen Gesundheit in der Schule.

Das SSA prüft anhand einer Checkliste des KM, ob das Konzept ein systematisches beziehungsweise evidenzbasiertes Vorgehen vorsieht. Wenn nicht, können das SSA und die Schule bei den jährlich anstehenden Statusgesprächen einen Maßnahmen- und Zeitplan zur Verbesserung des Konzepts vereinbaren. Das SSA kann nach der Prüfung auch darauf hinwirken, dass die Schule an BISS-Transfer teilnimmt.

Zeitlicher Ablauf

Die Schulen wurden am 28. April informiert. Am 15. und 17. Mai fanden Informationsveranstaltungen zu BISS-Transfer statt. Bis 1. Juli mussten sich die Schulen dafür verbindlich anmelden. Am 18. Juli fand für die Schulleitungen und die Ansprechpersonen die Einführung ins Projekt statt. Ende September erfolgt dann die inhaltliche Einführung in das Projekt. Schulen, die ein eigenes Leseförderkonzept fort- oder einführen wollten, legen dieses im Laufe des Schuljahres 2023/2024 dem jeweiligen Staatlichen Schulamt verpflichtend vor.

Da die Schulleitungen erst Ende April über die neue verbindliche Leseförderung informiert wurden, konnten viele Schulen das eigene Konzept nicht bis Juli mit der Checkliste abgleichen. Viele Grundschulen brauchen mehr Zeit, um sich inhaltlich mit dem Projekt BISS-Transfer zu beschäftigen und sich für einen gemeinsamen Weg zu entscheiden.

Ein Kommentar von Ricarda Kaiser, stellvertretende GEW-Landesvorsitzende

Unmotiviertheit oder zu wenig Tatendrang kann man dem Grundschulreferat im Kultusministerium nun wirklich nicht vorwerfen. Wenn man die vielen einzelnen Maßnahmen betrachtet, sieht man viele Projekte und den Willen, passgenaue Unterstützungsangebote in unseren Grundschulen zu etablieren.

Neben dem ambitionierten Versuch, die Empfehlungen der ständigen wissenschaftlichen Kommission zur Verbesserung der Leistungen in den Grundschulen umzusetzen, wird auch der Ruf erhört, neben Lesen, Rechnen und Schreiben auch künstlerische Kompetenzen der Schüler*innen in den Blick zu nehmen. Das ist gut, weil die Lehrkräfte sich das wünschen. Auch die zur Verfügung gestellten Materialien, Diagnoseinstrumente und Fortbildungsangebote können eine Unterstützung sein. Leider werden sie aber kaum als solche wahrgenommen. Die vielen kleinen Projekte, mögen sie einzeln auch noch so gut ausgestaltet und wichtig sein, lösen bei Schulleitungen und Kollegien in Grundschulen eher Panik als Freude aus. Angesichts der schlechten Unterrichtsversorgung und der alltäglichen Herausforderungen an Grundschulen, stoßen bei den meisten Kolleg*innen jedes neue Projekt und die damit verbundenen zusätzlichen Aufgaben erst einmal auf Ablehnung. Erst recht, wenn es noch konzeptionell im Rahmen von Schul- und Unterrichtsentwicklung umgesetzt werden muss. Das ZSL (Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung) kann kaum Unterstützungsangebote beisteuern, weil auch hier Kapazitäten fehlen.

Die Bildungswissenschaftlerin Anne Sliwka spricht von einer Projektitis. Das trifft es wohl am besten. Wo ist das große Ganze? Wo wollen wir in zehn Jahren mit unseren Grundschulen stehen? Wann erkennt die Landesregierung, dass an unseren Grundschulen nicht symptomatisch rumgedoktert werden muss, sondern dass unter dem Versprechen „Grundschulen stärken“, das stehen muss, was die GEW seit Jahren fordert: Am Anfang investieren statt später reparieren, das sollte der Leitgedanke sein. Ein Konzept aus einem Guss, das den Grundschulen Ressourcen zur Verfügung stellt, um die vielen Baustellen bewerkstelligen und die guten Angebote nutzen zu können. Der große Wurf wäre also, Poolstunden in den Direktbereich, flächendeckende Unterstützung durch multiprofessionelle Unterstützung und A13/E13 als Zeichen der Wertschätzung für die herausfordernde und gute Arbeit, die an Grundschulen geleistet wird.

Kontakt
Ruth Zacher
Vorsitzende Personengruppe Schulleitungsmitglieder und Landesrechtsschutzstelle