Programm gegen Lernlücken
Heiße Luft statt Rückenwind?
Mit „Rückenwind“ will das Kultusministerium coronabedingte Lernlücken schließen. Dabei soll auch Personal freier Träger zum Einsatz kommen. Unterstützung erhalten die Schulen durch das ZSL und IBBW. Der Erfolg hängt von vielen Faktoren ab.
Das Programm „Rückenwind“ wird in Baden-Württemberg im Rahmen des Bund-Länder-Programms „Aufholen nach Corona für Kinder und Jugendliche“ umgesetzt und ist auf zwei Jahre angelegt. Dafür stehen Bundesmittel von rund 130 Millionen Euro zur Verfügung. Eine weitere finanzielle Unterstützung in ähnlicher Höhe soll das Land beisteuern. Damit will das Kultusministerium (KM) etwa 240.000 Schüler*innen erreichen. Insbesondere die Klassenstufen 4, 9 und 10 sowie die Jahrgangsstufen vor dem Abitur sollen von dem Förderprogramm profitieren. Zudem werden die Jugendlichen im Übergangssystem des beruflichen Bereichs in den Blick genommen.
Geplant ist, dass sich die Lehrkräfte zu Beginn des Schuljahres zunächst einen Überblick über den Lernstand der Schüler*innen verschaffen. Das Institut für Bildungsanalysen Baden-Württemberg (IBBW) soll dafür Diagnoseverfahren und Testinstrumente zur Verfügung stellen. Dazu zählen unter anderem die Vergleichsarbeiten VERA 3 und VERA 8. Auf dieser Grundlage schlagen die Lehrkräfte dann die Kinder und Jugendlichen, die einen pandemiebedingten Förderbedarf aufweisen, für die Teilnahme an dem Programm vor.
Die Teilnahme ist freiwillig. Schüler*innen unterliegen nicht der Schulpflicht, wenn die Förderung außerhalb des üblichen Unterrichts stattfindet. Wie bei allen bisher aufgelegten Förderprogrammen besteht deshalb die Gefahr, dass gerade die Kinder und Jugendlichen, die auf Unterstützung angewiesen wären, nicht erreicht werden. Die GEW plädiert deshalb dafür, Regelungen zu schaffen, die verbindliche Angebote ermöglichen.
Bis zu den Herbstferien findet die Phase des „Ankommens“ der Schüler*innen in den neuen Klassen statt. Ob über diesen Zeitraum hinweg ein geregelter Präsenzunterricht möglich ist, lässt sich noch nicht vorhersagen. Wie die Lehrkräfte den Förderbedarf bei Wechsel- oder Fernunterricht diagnostizieren sollen, bleibt unklar. Für diesen Fall hat das KM bislang keinen Plan vorgelegt. Die GEW hätte sich hier mehr Weitsicht gewünscht.
Über ein Online-Portal sollen die Schulen Personal für die Umsetzung des Förderkonzepts gewinnen können. Anmelden können sich Lehrkräfte, Pädagogische Assistent*innen sowie Studierende und Personen, die bei freien Trägern beschäftigt sind (zum Beispiel VHS). Bei der Registrierung müssen die Personen neben ihren Stammdaten auch ihre pädagogische Qualifikation, den möglichen Einsatzbereich (Schule und Schulart, Klassenstufe, Fächer) sowie die gewünschte Wochenarbeitszeit angeben. Über das Regierungspräsidium erhalten sie dann einen befristeten Arbeitsvertrag der Entgeltgruppe S8a gem. Abschnitt 20.6 EGO TV-L Nr. 2. Dabei sind die Bezirkspersonalräte zu beteiligen.
Zunächst war die Rede von etwa 30.000 Einstellungen, vermutlich werden es aber deutlich weniger sein. Dennoch wird es zu einer zusätzlichen Belastung der Schulverwaltung führen. Die GEW fordert deshalb, dass bei der Schulverwaltung zusätzliche Sachbearbeiter*innen eingestellt werden. Lehrkräfte, die bereits an Schulen arbeiten, können sich direkt bei der Schulleitung melden. Sie können die Tätigkeit über Mehrarbeitsunterricht (MAU) abrechnen.
Die Förderung soll in Kleingruppen (sechs bis acht Schüler*innen) erfolgen. Die konkrete Ausgestaltung der Angebote liegt abhängig von den jeweiligen Rahmenbedingungen bei den Schulen.
In einem nächsten Schritt können die Schulen ihren Unterstützungsbedarf über ein so genanntes Kursmodul melden. Das Prinzip orientiert sich an den schulbezogenen Ausschreibungen. Das bedeutet, dass eine Grundschule beispielsweise einen Förderkurs für Klasse 4 im Fach Deutsch ausschreiben kann. Allen Schulen steht dafür ein bestimmtes Budget zur Verfügung. Dieses setzt sich aus einem Sockelbetrag von 2.500 Euro sowie einem Betrag von circa 50 Euro pro Schüler*in zusammen. Die Schulverwaltung erhält zudem ein Ausgleichsbudget, das bedarfsorientiert an Schulen eingesetzt werden kann.
Im Anschluss beginnt die Personalauswahl an den Schulen. Hier soll – ebenfalls in Anlehnung an die schulbezogenen Ausschreibungen – ein Mitglied des Personalrats (Gymnasien und Berufliche Schulen) beziehungsweise ein Mitglied der GLK (GHWRGS) hinzugezogen werden. Das Ziel ist, dass die Personen ihre Tätigkeit an den Schulen nach den Herbstferien beginnen können.
Großer Aufwand an Schulen
Auf die Schulleitungen wird eine erhebliche zusätzliche Belastung zukommen. Sie müssen die Kurse einstellen, Kontakt mit den Personen aufnehmen, eine Auswahl treffen und den Einsatz an der Schule organisieren. Die GEW hat das gegenüber dem KM scharf kritisiert und fordert umgehend eine zeitliche Entlastung und personelle Unterstützung für die Schulleitungen. Aber auch die Lehrkräfte sind gefordert. Durch die Diagnose des Lernstands, die Entwicklung geeigneter Förderkonzepte und die notwendigen Absprachen mit dem neuen pädagogischen Personal müssen sie mehr arbeiten. Bislang hat das KM weder für die Schulleitungen noch für die Lehrkräfte eine Entlastung vorgesehen.
Die Schüler*innen brauchen passendes Fördermaterial und das Personal muss für die Aufgaben qualifiziert werden. Das Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung (ZSL) hat dazu auf seiner Internetseite Dokumente zu den Kernfächern für die unterschiedlichen Schularten eingestellt und bietet zudem für Lehrkräfte Unterstützungsmaterial zu Diagnose und Förderung an. Das ist eine erste Grundlage. Mit Downloads allein ist es jedoch nicht getan. Die Beschäftigten brauchen vor Ort auch geeignetes Unterrichtsmaterial. Darüber hinaus muss sichergestellt werden, dass für das pädagogische Personal ausreichend angemessene Fortbildungen angeboten werden – schulrechtlich, fachlich und pädagogisch.
Mitte September sind aber noch Fragen ungeklärt. Die GEW bezweifelt, dass der vorgesehene Zeitplan eingehalten werden kann. Die Freischaltung des Registrierungstools erfolgte kurz vor Ende der Sommerferien. Einzelne notwendige rechtliche Regelungen sind dabei noch nicht abschließend geklärt. Dazu gehört zum Beispiel, wie die konkreten Rahmenverträge mit den Kooperationspartnern aussehen. Hier besteht dringender Handlungsbedarf. Noch im September soll das Kursmodul zur Verfügung stehen, und auf den Seiten des ZSL heißt es, dass Online-Veranstaltungen für alle Schularten in Vorbereitung seien. Wie genau das Programm also starten wird, bleibt abzuwarten.
Am Ende zählt aber vor allem, dass bei dem Förderprogramm nicht ein regionales Ungleichgewicht entsteht. Die Erfahrung bei der Lehrkräfteeinstellung hat in den vergangenen Jahren gezeigt, dass freie Stelle in bestimmten Regionen nicht besetzt werden konnten. Dort kann die Unterrichtsversorgung schon jetzt kaum sichergestellt werden. Zum einen muss deshalb vermieden werden, dass Vertretungslehrkräfte, die sich über VPO (Vertretungspool-Online) für ein befristetes Arbeitsverhältnis bewerben wollten, nun für Rückenwind registrieren und damit den Schulen nicht mehr zur Sicherung des Unterrichts zur Verfügung stehen. Zum anderen muss dafür gesorgt werden, dass vor allem im ländlichen Raum ausreichend Personal für das Förderprogramm gewonnen werden kann. Andernfalls würden die Kinder und Jugendlichen an diesen Standorten doppelt benachteiligt.
Auch die unterschiedliche Ausstattung der Schulen mit Lehrkräften und Leitungszeit und Leitungsstellen wird zu einer nicht sachgerechten Verteilung der zusätzlichen Förderkonzepte führen. Überlastete Lehrkräfte und Schulleitungen können diese zusätzliche Aufgabe nicht bewältigen. Im GHWRGS-Bereich (Grund-, Haupt-, Werkreal-, Real- und Gemeinschaftsschulen sowie Sonderpädagogische Bildungs- und Beratungszentren) und vor allem an kleinen Schulen reichen die personellen Kapazitäten der Schulleitungen dafür nicht aus.
Wer den Schüler*innen den notwendigen Rückenwind geben will, muss angemessene Rahmenbedingungen für die Schulen und Schulleitungen schaffen. Sonst besteht die Gefahr, dass von der gut gemeinten Idee nur heiße Luft übrigbleibt.