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IGLU-Studie 2021

Lesekompetenz der Grundschüler*innen seit 20 Jahren im Abwärtstrend

Das Instrument des internationalen Bildungsmonitorings, wie es IGLU, PISA und andere Vergleichsstudien sind, soll den Ländern zeigen, wo sie bei den jeweils untersuchten Kompetenzen stehen. Aber was passiert mit den Ergebnissen?

Ein Kind hat einen schwebenden Bogen mit den Buchstaben des Alphabets über dem Kopf und hält sich zwei Buchstaben vor die Augen.
Foto: FamVeld  / iStock

Gut lesen zu können, ist die Basis des Lernens. So kann man den Anlass der Internationalen Grundschul-Leseuntersuchung (IGLU) auf den Punkt bringen. Wie ergiebig diese aufwendigen Studien tatsächlich sind, darüber wird seit der ersten PISA-Studie gestritten. Was die Ergebnisse des jetzt erschienenen Vergleichs aber auf jeden Fall interessant macht, ist die Datenerhebung während der COVID-19-Pandemie, die ja alle Staaten betraf und damit auch Auswirkungen in alle Bildungssysteme hinein hatte. Weitere Besonderheiten: Der Umgang mit der Digitalisierung und die jetzt mögliche Abbildung eines ­20-Jahres-Trends bei der Lesekompetenz der Grundschüler*innen.

In den einzelnen Kapiteln des ausführlichen Berichtsbands zur Studie wird außerdem der Vergleich der papier- und computerbasierten Lesekompetenz, so­ziale Disparitäten, die Rahmenbedingungen und Qualität des Unterrichts, die Ausstattung mit digitalen Medien, die Schulzufriedenheit und Schulfreude der Schüler*innen und die Schullaufbahnpräferenzen von Lehrkräften und Erziehungsberechtigten untersucht.

Viele schwache Leser*innen

Die mittlere Lesekompetenz fällt bei den Grundschüler*innen in Deutschland im Vergleich zu 2011 und 2016 deutlich geringer aus. Es gibt einen hohen Anteil an schwachen Leser*innen, gleichzeitig ist der Anteil der starken Leser*innen relativ niedrig. Im internationalen Vergleich mit den EU- und den OECD-Ländern befindet sich Deutschland mit diesen Ergebnissen im Mittelfeld.

In die Berechnungen des 20-Jahres-Trends konnten 16 Staaten und Regionen aufgenommen werden, die die statistischen Voraussetzungen für einen Vergleich erfüllten. „In sieben davon zeigt sich ein signifikanter Anstieg, in vier keine bedeutsame Veränderung und in fünf ein signifikanter Rückgang der mittleren Lesekompetenz im 20-Jahre-Trend. Der größte Anstieg ist mit 59 Punkten in Singapur zu verzeichnen. Deutschland befindet sich mit einem signifikanten Rückgang der mittleren Lesekompetenz in der Gruppe von Staaten mit den stärksten Rückgängen zwischen 2001 und 2021.“ (IGLU 2021, Seite 115)

Eine veränderte Zusammensetzung der Schüler*innen und die Pandemie sind Gründe für diese Verschlechterungen. Allerdings weisen die Autor*innen der IGLU-Studie darauf hin, dass es vereinzelte Länder gebe, die sich diesem generellen Trend entgegenstellen konnten, und die Verschlechterungen deshalb weitere Ursachen hätten, die es noch näher zu betrachten gelte.

Suche nach den Gründen

Die individuelle Lesekompetenz ist Ergebnis vieler Faktoren. In Deutschland bestimmen nach wie vor die soziale Stellung eines Kindes und dessen Familie den Schulerfolg mit. Gemessen an den Indikatoren Familiensprache, Bücherbesitz und Bildungsabschlüsse der Erziehungsberechtigten hat sich die Bildungsungleichheit seit der ersten IGLU-Studie nicht verringert. Durch den Distanzunterricht während der Schulschließungen in Zeiten der Corona-Pandemie gerieten die benachteiligten Schüler*innen noch weiter ins Hintertreffen. Die Studie macht eine Reihe von Vorschlägen, wie die Kompetenzrückstände kompensiert werden könnten, unter anderem wird auf die ungenutzten Potenziale des Ganztags hingewiesen.

Die Freude am Lesen ist bei den Grundschüler*innen nach wie vor groß (Kapitel 6). Allerdings könnte der Leseunterricht an den Grundschulen noch mehr dazu beitragen, Lesemotivation und Lesekompetenz zu verbessern. Nach den IGLU-Ergebnissen ist die Lesezeit im Unterricht hierzulande niedriger als in Vergleichsländern.

„Das Verhältnis von Sprachunterrichtszeit zu Leseunterrichtszeit beträgt in Deutschland etwa drei zu eins, während es im EU­/OECD-Durchschnitt etwa zwei zu eins beträgt.“ (Seite 185) Es werden außerdem nur selten systematische Diagnoseverfahren angewendet. Und: die Auswahl der Klassenlektüren ist kaum an den Interessen der Kinder orientiert, im Durchschnitt sind die Werke 25,6 Jahre alt! Es ist naheliegend, dass das stärkere Aufgreifen von in der Freizeit gelesenen Büchern im Unterricht das Interesse der Schüler*innen steigert, weil dies mehr ihrer Lebenswirklichkeit und ihren Bedürfnissen entspricht (Seite 182).

Nicht zuletzt hat die Benachteiligung eine maßgebliche Auswirkung auf den weiteren Bildungsweg: „Gymnasialpräferenzen der Lehrkräfte und der Erziehungsberechtigten am Ende der Grundschulzeit hängen auch bei gleicher Lesekompetenz und gleichen kognitiven Fähigkeiten substanziell mit der sozialen Herkunft zusammen.“ (Seite 246) Zwar hängt die Gymnasialempfehlung eng mit der Leistung der Kinder zusammen, aber eben nicht nur. Noch immer müssen Kinder aus den unteren Sozialschichten „deutlich höhere Lesekompetenzwerte erreichen, um eine Empfehlung für das Gymnasium zu bekommen“ (Seite 245).

Reaktionen auf die Studie

Mit immer neuen Programmen, aktuell dem „Startchancenprogramm“, möchte die Bildungspolitik der Misere beikommen. Der Bildungsjournalist Jan-Martin Wiarda bezweifelt, dass damit die Ursachen tatsächlich angegangen werden und fragt: „[...] Oder sind die Ergebnisse von IGLU, PISA & Co genau wie der Umgang der Bildungspolitik mit ihnen nicht vielmehr weitere Belege der tiefgreifenden gesellschaftlichen Modernisierungskrise, in der Deutschland sich befindet? Die Bundesrepublik verliert seit Jahren den Anschluss in immer mehr Zukunftsbranchen und -technologien, doch der Ruck bleibt aus. Ein Ruck, der zuerst und vor allem über die Bildungs- und Forschungspolitik organisiert werden müsste. Während in der Forschungspolitik (Stichwort SPRIND, DATI, Zukunftsvertrag & Co) wenigstens gewisse Regungen zu verzeichnen sind, herrscht in der Bildungspolitik null Dynamik.“ (Wiarda-Blog)

In diese Richtung argumentiert auch die Stiftung Lesen: „Es braucht einen politischen und gesellschaftlichen Aufbruch, um die Lesekompetenz von Kindern und Jugendlichen nachhaltig zu verbessern. Lehrkräfte müssen bundesweit auf strukturierte und verbindliche Lösungen für die Leseförderung zurückgreifen können und praxisnah unterstützt werden.“ (Stiftung Lesen)

Auf den Nutzen verbindlicher Tests und einer darauf aufbauenden, wissenschaftlich begründeten, individuellen Förderung weist auch das Handelsblatt hin und führt dazu das Beispiel Singapur an: „Der Inselstaat lag vor 20 Jahren bei IGLU noch hinter Deutschland, heute ist er internationaler Spitzenreiter.“ (Handelsblatt, 16. Mai 2023)

Und die Politik? Die Grünen drängen darauf, dass sich „Bund und Länder zeitnah auf gemeinsame Eckpunkte für das Startchancen-Programm einigen, für öffentlich ausgetragene Kompetenzrangeleien ist die Lage zu dramatisch. IGLU zeigt zum wiederholten Male, dass wir gezielt dort fördern müssen, wo Bedarf ist. Bei der Mittelverteilung ist eine Abkehr vom Königsteiner Schlüssel daher unabdingbar“, sagte die bildungspolitische Sprecherin der Bundestagfraktion, Nina Stahr.

Auch für die FDP ist die Umsetzung des Programms wichtig, sie sieht hier vor allem die Länder in der Pflicht: „Wenn die Bundesländer jetzt nicht wach werden und beim Startchancenprogramm in einen konstruktiven Arbeitsmodus schalten, gefährden sie die Zukunft unserer Kinder“, erklärt die bildungspolitische Sprecherin der FDP-Fraktion Ria Schröder.

„Sprachförderung muss in der KiTa beginnen und in der Grundschule so weit gefördert werden, dass es für ein erfolgreiches Lernen in allen Fächern reicht.“, meint die CDU-CSU-Bundestagfraktion, bleibt aber darüber hinaus eher vage in der Kommentierung beim Vorschlag von Lösungen.

Was also tun, wenn die IGLU-Studienleiterin Prof. Nele McElveny bei der Bundespressekonferenz zur Vorstellung der Studie in ernüchternder Deutlichkeit feststellt: „Wir sehen, dass die Maßnahmen der letzten 20 Jahre keine Wirksamkeit haben.“ Mehr Geld in die Grundschulen und gezielte Leseförderprogramme sowie den Ausbau der Ganztagsangebote schlägt die GEW vor. Dabei müssen die Programme jedoch künftig belastbar auf ihre Wirksamkeit hin überprüft werden. Der Versand von Handreichungen an die Schulen reicht dazu nun mal nicht aus.

GEW-Hauptvorstandsmitglied Anja Bensinger-Stolze fordert ein 100-Milliarden-Euro-Programm für Investitionen in die Bildung, was über ein Sondervermögen finanziert werden soll. Ob uns Bildung aktuell ähnlich viel wert ist wie die Rüstung? Selten war die Antwort auf diese Frage offener.


Berichtsband der IGLU-Studie 2021: Nele McElvany, Ramona Lorenz, Andreas Frey, Frank Goldhammer, Anita Schilcher, Tobias C. Stubbe (Hrsg.), IGLU 2021 – Lesekompetenz von Grundschulkindern im internationalen Vergleich und im Trend über 20 Jahre, 2023, WAXMANN, ISBN 978-3-8309-4700-4

Kontakt
Ute Kratzmeier
Referentin für allgemeinbildende Schulen
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