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Landesregierung setzt auf Dialogische Bürgerbeteiligung

Rückkehr zum neunjährigen Gymnasium in Baden-Württemberg?

Die GEW fordert, das Thema G8/G9 mit Blick auf unser gesamtes ­Bildungssystem zu diskutieren und zu klären, wofür zusätzliche Lernzeit an Gymnasien genutzt ­werden soll. Ein Bürgerforum soll bis Ende 2023 Vorschläge machen.

Mit einem Volksantrag will eine Elterninitiative erreichen, dass die gymnasiale Schulzeit in Baden-Württemberg wieder 9 Jahre dauern soll. Dazu wären bis Anfang November 39.000 Unterschriften nötig. Derzeit fehlen jedoch noch 16.000 Unterschriften. Es ist fraglich, ob das erforderliche Quorum für einen erfolgreichen Volksantrag erreicht werden kann. Aufmerksamkeit in den Medien hat die Elterninitiative dennoch gefunden. Inzwischen unterstützen vor allem die Oppositionsparteien im Landtag die Wahlfreiheit zwischen G8 und G9. Die CDU zeigt sich offen dafür, obwohl sie die Schulzeitverkürzung für Gymnasiast*innen vor rund 20 Jahren gegen erhebliche Widerstände eingeführt hat. Einzig die Grünen im Landtag sehen aktuell vordringlichere bildungspolitische Herausforderungen – insbesondere Investitionen in frühe Bildungsphasen. Im Koalitionsvertrag für die aktuelle Legislaturperiode bis 2026 ist die Beibehaltung von G8 als Regelform vereinbart.

Zentrale Begründung der Elterninitiative ist, Kindern und Jugendlichen mehr Zeit zum Lernen und für Aktivitäten außerhalb der Schule zu geben. Die Verkürzung des gymnasialen Bildungsgangs habe zur Verdichtung des Lernstoffs und zu Stress vor allem in den unteren und mittleren Klassenstufen geführt. Sie verweisen darauf, dass inzwischen alle westdeutschen Flächenländer wieder zur 9-jährigen Dauer des Gymnasiums zurückgekehrt seien. Die Landesregierung betont, dass auch in Baden-Württemberg ein neunjähriger Weg zum Abitur über den Besuch einer Gemeinschaftsschule, einer Realschule und eines Beruflichen Gymnasiums möglich ist. Die G9-Modellversuche an 43 staatlichen Gymnasien wurden vor kurzem ebenfalls verlängert. Für eine flächendeckende Rückkehr zum neunjährigen Gymnasium wären nach Berechnungen des Kultusministeriums bis zu 1.400 Stellen für Lehrkräfte zusätzlich notwendig. Städte und Gemeinden weisen darauf hin, dass die aktuell steigenden Schülerzahlen bereits zusätzlichen Raumbedarf auslösen. Dieser Raumbedarf würde bei einer Rückkehr zu G9 weiter steigen und damit erhebliche kommunale Investitionen verursachen.

Dialogische Bürgerbeteiligung beschlossen

Die öffentliche Diskussion erzeugt politischen Druck. Deshalb hat die Landesregierung beschlossen, eine Dialogische Bürgerbeteiligung zur Frage G8/G9 durchzuführen. Sie hat die Servicestelle Bürgerbeteiligung mit der Durchführung des Verfahrens bis Jahresende 2023 beauftragt. Das wichtigste Instrument dafür ist ein Bürgerforum, dessen Teilnehmer*innen ausgelost werden. 40 bis 60 zufällig ausgewählte Bürger*innen sollen ab Herbst in 6 Sitzungen (geplant sind Videokonferenzen) von Wissenschaftler*innen und Betroffenen informiert werden. Auf dieser Grundlage diskutieren sie über die zukünftige Dauer des gymnasialen Bildungsgangs. Am Ende sollen sie der Politik Empfehlungen geben. Das Ergebnis der Dialogischen Bürgerbeteiligung ist für die Politik nicht bindend. Für eine Entscheidung ist der Landtag zuständig. Auch mit dem Volksantrag hat die Bürgerbeteiligung nichts zu tun. Die Servicestelle Bürgerbeteiligung hebt hervor, dass sich Bürgerforen weltweit als geeignetes Instrument zur Klärung umstrittener Themen bewährt hätten. Der Kommunikationsexperte Frank Brettschneider betont allerdings: „Es ist extrem wichtig, dass man den Eindruck hat, dass das Verfahren fair war.“

Zum Auftakt hat die Servicestelle eine vorläufige Themenlandkarte für das spätere Bürgerforum erarbeitet. Vertreter*innen wichtiger bildungspolitischer Ak­teure, darunter auch die GEW, waren am 17. Juli 2023 in den Kursaal Bad Cannstatt eingeladen. Bei diesem sogenannten „Beteiligungsscoping“ ging es darum, wichtige Themenaspekte für das spätere Bürgerforum zu sammeln, verschiedene Sichtweisen einzubinden, um so die gesamte Bandbreite der Debatte zu erfassen. Bei der Sitzung haben die Anwesenden ihre mehr oder weniger bekannten Positionen vorgetragen, und die Servicestelle hat diese zur Ergänzung der Themenlandkarte mitgeschrieben. Die erweiterte Themenlandkarte ist seit Ende Juli auf dem Beteiligungsportal des Landes freigeschaltet. Staatsrätin Barbara Bosch hat alle Bürger*innen des Landes über die Medien eingeladen, den Beteiligungsprozess mitzugestalten. Bis 22. September konnten sich alle Interessierten über das Onlineportal zum Thema äußern.

Fragestellungen und Diskussionen in der GEW

Auch in den Fachgruppen und in den Vorstandsgremien der GEW wird das Thema „Beibehaltung von G8 oder Rückkehr zu G9?“ intensiv diskutiert. Aus dieser Diskussion hat die GEW die Forderung in den Beteiligungsprozess eingebracht, das Thema mit Blick auf Lernkonzepte und auf unser gesamtes Bildungssystem zu beleuchten. So unterstützenswert die Forderung nach mehr Lernzeit ist, muss geklärt werden, wofür sie genutzt werden soll. Es geht um die Weiterentwicklung der Lern- und Prüfungskultur unter den Überschriften: Ganzheitliche Bildung, vernetztes Lernen, Demokratiebildung, Zukunftskompetenzen, Feedbackkultur, Projekte, Teamarbeit. Bei einer Entscheidung über Wege zum Abitur und der dafür gewährten Lernzeit muss das gesamte Bildungssystem in Baden-Württemberg mit seinen aktuellen Problemen, besonders der Bildungsungerechtigkeit in den Blick genommen werden: Fachkräftemangel, Ganztag, Inklusion, Stärkung früher Bildungsphasen. Letztlich geht es auch um das Thema Krisenfestigkeit für das System Schule, das aktuell am Limit ist.

Ganze Bildungssystem betrachten

Interessant war die Replik der Servicestelle beim Beteiligungsscoping. Der Auftrag des Staatministeriums sei nicht so umfangreich und umfasse nicht die Betrachtung des gesamten Bildungssystems. Erfreulicherweise haben andere Vertreter*innen, insbesondere die Industrie- und Handelskammer (IHK) und der Vorsitzende des Landesschulbeirats das Votum der GEW für eine ganzheitliche systemische Betrachtung unterstützt. Deutlich wurde, dass es für die Ergebnisse des Bürgerforums entscheidend darauf ankommt, von wem, mit welchen Interessen und in welcher Qualität die ausgewählten Zufallsbürger*innen informiert werden. Die GEW hat ihre Beteiligung eingefordert.

Eine Dialogische Bürgerbeteiligung kann die politische Diskussion in einer so umstrittenen Frage wie G8/G9 bereichern. Die GEW wird ihre bildungspolitische Kompetenz in den weiteren Prozess einbringen. Es bleibt allerdings fraglich und abzuwarten, welche inhaltliche Tiefe der Beteiligungsprozess zu einem so komplexen Thema in der kurzen Zeit bis Jahresende erreichen kann. Mit einer offenen Haltung und dem gleichzeitigen Blick auf das gesamte Bildungssystem sollte die GEW ihre innergewerkschaftliche Diskussion zum Thema G8/G9 fortsetzen und dabei die Beschäftigten an den Gymnasien sowie an allen anderen Schularten mitnehmen. Es zeichnet die Bildungsgewerkschaft GEW aus, dass sie die Verbesserung der Qualität in allen Bildungseinrichtungen und die Bildungsgerechtigkeit im Blick hat.