Acht Jahre lang unterrichtete Gülay Iscan-Pilic in Vorbereitungsklassen. Ihr eigener Migrationshintergrund schien sie dafür zu prädestinieren. Zunächst sträubte sie sich gegen diese Zuschreibung, entdeckte aber, dass sie Erwartungen und Ängste schneller verstand. Sie beschreibt ihre Erfahrungen und regt an, immer wieder die Perspektive zu wechseln. So könnte Integration gelingen.
Dass ich vor acht Jahren eine Vorbereitungsklasse (VKL) übernahm, hatte nichts mit meinem Migrationshintergrund zu tun. Ich hatte eine Fortbildungsreihe besucht und wollte das, was ich gelernt hatte, praktisch umsetzen. Verschiedenen Personen sagten dann zu mir: „Du bist wie geschaffen für diese Arbeit.“ Oder: „Durch deine Zweisprachigkeit bist du perfekt für diese Kinder“. Türkisch/kurdischer Abstammung zu sein, prädestinierte mich also dafür, italienische, polnische, rumänische, syrische und irakische Kinder nicht nur zu einer Gruppe zusammenzubringen, sondern sie auch noch professionell zu unterrichten. Es schien keine Rolle zu spielen, dass ich mich bis dahin nie mit Zweitspracherwerb auseinandergesetzt hatte.
Ich war überzeugt, dass jede andere Lehrerin, jeder andere Lehrer, die Vorbereitungsklasse genauso gut oder schlecht unterrichten könnte wie ich, wenn er/sie bereit wäre, sich darauf einzulassen. Doch mit der Zeit lernte ich, wie wichtig meine Migrationsgeschichte tatsächlich für meine pädagogische Arbeit war.
Ohne es böse zu meinen, wird die Arbeit in den Vorbereitungsklassen von einem großen Teil der Schulgemeinschaft noch immer als eine nicht vollwertige und anstrengende Arbeit angesehen. Immer noch finden sich selten Freiwillige, die diese Arbeit übernehmen möchten. Sie denken an eine Gruppe wilder Kinder, deren Eltern sich eigentlich nicht für Schule interessieren. Nach über vierzig Jahren Migration hat sich das Bild gehalten, es scheint unabänderlich in den Köpfen der Gesellschaft verankert.
Mein erster Schritt war es daher, das Bild über die Eltern zu verändern. Immer wieder schwärmte ich vor, wie angenehm und fruchtbar die Zusammenarbeit mit den Eltern sei. Das entsprach den Tatschen, führte aber zu allgemeiner Verwunderung. Der Verwunderung folgte eine klare Diagnose: „Ja, diese Eltern sind eben dankbar für alles, was man für sie tut, nicht wahr?“ Auch das galt es zu revidieren. Selbstverständlich waren sie dankbar. Aber nicht darüber, dass man etwas für sie tat, sondern weil 90 Prozent der Eltern Bildung wichtig war und sie froh darüber waren, dass jemanden ernsthaft über die schulische Zukunft ihrer Kinder nachdachte. Es ging darum, über die VKL hinaus Perspektiven und Ziele aufzuzeigen. Die Arbeit in der VKL bedeutet immer, in die Zukunft zu sehen.
Noch war niemand bereit, die Kinder als das zu sehen, was sie waren: Nämlich ganz normale Kinder – nur ohne die gängige Verkehrssprache. Sprachlosigkeit wurde leider oft mit mangelnder Intelligenz gleichgestellt.
Integrationsfördernde Haltung
„Das ist eine Frage der Haltung“, lautet der Abschluss jeder Sitzung, die sich mit der pädagogischen Arbeit in Vorbereitungsklassen auseinandersetzt. Doch häufig wird darunter eine allgemeine Freundlichkeit verstanden. Eine positive, integrationsfördernde Haltung erreicht man als Pädagogin und Pädagoge aber nicht, indem man Migranten freundlich behandelt. Dann ist man ein freundlicher Mensch, eine gute Seele, eine hilfsbereite Person. Eine positive Haltung entwickelt sich erst, wenn man auch Verantwortung übernimmt, Integration als Aufgabe erkennt und danach handelt.
Neben all dem Verständnis bedeutet Haltung vor allem eins: aktiv zu werden. Dinge zu tun, die getan werden müssen. Das kann bedeuten, Hausbesuche zu machen, das kann aber auch bedeuten, mit der Familie zum Turnverein zu gehen, um das Kind anzumelden. Dann und nur dann kommen die Menschen tatsächlich an.
Erster Kontakt stellt Weichen für gelungene Integration
Die Schule ist die erste Institution, mit der die eingewanderten Familien in Deutschland direkt und persönlich in Kontakt treten. Vor der Schule sind die Familien meist ein Aktenzeichen. Eingebettet in eine anonyme Masse. In der Schule bekommt er oder sie ein Gesicht, einen Namen und eine eigene Geschichte. Wer vorher das Abbild eines scheinbar homogenen Kulturkreises war, entpuppt sich zum ersten Mal als Mensch.
Vor allem der erste Schultag ist eine Herausforderung. In erster Linie für den Ankommenden. Man steht in einem fremden Gebäude, klopft an eine fremde Tür, um das Kind dort abzugeben, in der eine Sprache gesprochen wird, der man selbst nicht mächtig ist.
Mut machen, wenn das Kind verzweifelt! Wichtig werden dann die vielen Informationen, die wir als Lehrerinnen und Lehrer bestrebt sind loszuwerden, damit „alles gut klappt“. Doch wir müssen den Familien erst einmal Sicherheit vermitteln. Es ist unsere allererste Aufgabe, ihnen in einer schwierigen Zeit beizustehen und ihnen ihre Ängste zu nehmen. Es hilft:
- Wenige und übersichtliche erste Informationen geben.
- Die Materialliste überschaubar halten.
- Sich möglichst einen ersten Überblick verschaffen: Gibt es Geschwisterkinder? Haben sie einen Kindergartenplatz? Haben die Eltern schon einen geeigneten Kinderarzt aufgesucht? Braucht die Familie eine ergänzende Betreuung?
Bis die Menschen bei uns ankommen, haben sie eine Fülle von Ängsten angesammelt. Zu jeder Lebensphase übernimmt eine bestimmte Angst das Kommando. Doch eine liegt existenziell allen Ängsten zugrunde: Die Angst um die Sicherheit der Familie. Wenn dieses Grundgerüst einmal ins Wanken geraten ist, dann wird es viel Arbeit kosten, es wiederherzustellen. Wichtig ist, dass die Eltern sich wirklich mit ihren Ängsten angenommen fühlen. Jede Form von zu schnellem Handeln kann Rückschritte zur Folge haben.
Eine gravierend andere Lebenslage
Immer wenn wir mit den Eltern sprechen, sollten wir ihnen von Mensch zu Mensch begegnen. Vor jedem Gespräch sollte man sich bewusst machen, aus welcher Rolle heraus wir das Gespräch führen. Selbstverständlich sind wir in erster Linie in der Lehrerrolle, aber es schwingt immer noch etwas mit. Der gut situierte, auf Ordnung bedachte europäische Mensch. Auch wenn wir uns noch so sehr bemühen, haben wir unbewusst immer den Wunsch, die Eltern mögen sich an unsere Ratschläge halten. Allein das führt zu einem Ungleichgewicht zwischen den Gesprächspartnern. Viele Eltern unserer VKL-Schüler/innen befinden sich in einer so gravierend anderen Lebenslage, dass wir immer wieder versuchen sollten, aus deren Lebenswirklichkeit heraus zu beraten.
Lassen wir den Kindern ihre Muttersprache. Kinder müssen die Welt in ihrer Sprache verstehen. Die Übersetzung schaffen sie dann selbst. Zu Beginn meiner Arbeit in der Vorbereitungsklasse gab es sowohl im Kollegium als auch in anderen Kontexten immer einen besonderen Diskussionspunkt: Welche Sprache wenden wir an? Die Einsicht, dass man die Muttersprache nicht einfach abkapseln kann und diese einen wichtigen Teil des Menschen ausmacht, dauerte Jahre. Immer wieder wurde beraten, ob es sinnvoll wäre, auf dem gesamten Schulgelände die Muttersprache zu verbieten. Das Ziel: Das Festigen der deutschen Sprache bei allen Schülern.
Der Theorie zufolge bewegen sich die Kinder zu wenig im deutschsprachigen Raum. Das stimmt. Also fördern wir durch das Verbot der Muttersprache die Entwicklung der deutschen Sprache. Das stimmt nicht. Gegen ein Verbot sprechen folgende Argumente:
- Die Gelegenheiten, in denen in der Schule die Muttersprache gesprochen werden kann, sind verschwindend gering. Das kann nicht die Ursache für das Fehlen der deutschen Sprache sein.
- Es gibt Gelegenheiten, in denen die emotionale Sprache eines Menschen wichtig ist. Diese Momente sind nicht rational zu steuern. Deshalb ist es unsinnig, ein solches Verbot auszusprechen.
- Verbieten wir Menschen ihre emotionale Sprache, dann fehlt ihnen ein wichtiges Stück ihrer Identität.
- Die Welt kann in vielen Sprachen begriffen werden. Und auf dieses Begreifen kommt es an.
Es geht nicht darum, dass die Muttersprache die deutsche Sprache überschattet. Es fehlt das Erfahren der Welt grundsätzlich. Wenn einem Kind das Bild fehlt, so fehlt auch das Wort.
Unsere Aufgabe ist, ihnen das Erleben in deutscher Sprache zu ermöglichen, aber ihnen auch immer wieder die Möglichkeit zu geben, durch (eigene) Übersetzungen in der Muttersprache die Welt zu begreifen.
Respekt vor dem kulturellen Ursprung
Als 2015 viele Geflüchtete zu uns kamen, führte ich viele Gespräche mit Menschen, die zum Teil keinen persönlichen Kontakt zu Flüchtlingen hatten. Während all der Gespräche wurde eines immer wieder deutlich: Die Angst vor Überfremdung war so groß, dass der Übergang in unser gesellschaftliches Wertesystem möglichst nahtlos vonstattengehen sollte. Motto: „Wir sollten uns gleich darum kümmern, damit der Orient sich gar nicht erst festsetzen kann.“
Aber es darf bei unseren Bemühungen um die Integration der Schülerinnen und Schüler nie darum gehen, das Wertesystem der Familien zu kritisieren oder gar zu unterwandern. Jedes Wertesystem ist aus dem Leben heraus entstanden. Weder können wir uns ihr Leben vorstellen, noch ist es für unser Gegenüber ersichtlich, aus welchem Leben heraus unsere Werte entstanden sind. Wir sollten daher von voreiligen Schritten absehen und Respekt vor dem kulturellen Ursprung der Familien haben.
Die Werte, nach denen wir selbst handeln und von denen wir möchten, dass auch Migrantinnen und Migranten sie übernehmen, haben wir uns einverleibt, weil sie uns vorgelebt wurden. Die Menschen, die zu uns gestoßen sind, brauchen Zeit, all dies zu begreifen, es zu erleben, um dann völlig autonom zu entscheiden, was davon sie übernehmen möchten. Ihre Prioritäten können anders ausfallen, als sie für uns ausfallen würden. Die Geschwindigkeit, mit der Entwicklung stattfindet, wird höchstwahrscheinlich nicht in dem Sinne sein, wie wir es uns wünschen. Genau darauf sollten wir uns einstellen, weil diese Menschen etwas ganz Fundamentales vollbringen: Sie ordnen ihr gesamtes Leben neu.
Bekannte Strukturen geben Sicherheit
Wenn Menschen quer durch Europa kommen und Kontinente überqueren, ist das Letzte, woran sie denken, die ideelle Ebene des Wechselns. Es ist nur logisch, dass sie sich an ihre engste und bekannteste Struktur halten: Die Familie. Das, was für uns wie Stagnation aussieht, ist das Streben nach Sicherheit. Es muss einen engen Kreis geben, in dem sich die Menschen sicher und geborgen bewegen dürfen, in dem sich nichts verändert. Sonst verändert sich für diese Menschen alles.
Die Einführung in ein neues System sollte behutsam erfolgen. Sonst kann es passieren, dass die Familien überfordert sind und sich ganz ins Private zurückziehen. Das erste Ziel sollte daher sein, dass die Kinder regelmäßig in die Schule kommen. Können wir die Kinder im Bildungssystem halten, steigen die Chancen, dass sich auch die Strukturen der Familie verändern. Auch wenn diese Chance zunächst nicht vielversprechend aussieht, wirkt jeder noch so kleine Prozess irgendwann auf die Familie.
Oft werde ich gefragt: „Warum passiert nichts, wo ich doch schon mehrfach betont habe, wie gut das für das Kind wäre? Darauf kann ich nur antworten: „Weil wir ihnen das Recht auf eigene Erfahrung nicht absprechen dürfen.“ Was wir täglich unseren eigenen Kindern zusprechen, nämlich hinzufallen, um dann wieder aufzustehen, sprechen wir diesen Menschen ab. Manchmal müssen tatsächlich die ersten Kinder scheitern, bevor Veränderung stattfinden kann. Wir können dann nur, auch wenn es schwer fällt, zusehen. Menschen verändern nur, wenn sie erleben, dass es tatsächlich einer Veränderung bedarf. Das dauert.
Die Gesellschaft akzeptiert nur, was deutlich sichtbar ist. Eltern nehmen Themen von der Schule mit nach Hause, sie denken darüber nach, sprechen darüber, entscheiden vielleicht nicht immer und nicht sofort in unserem Sinne. Aber das Thema existiert in der Familie, sobald ich es ausspreche. Wir neigen dazu, Erfolge immer an Ergebnissen festzumachen und wenn das Ergebnis nicht unseren Wünschen entspricht, ärgern wir uns oder geben auf, anstatt freundlich, bestimmt und akzeptierend immer wieder neu anzusetzen. In dem Wissen, dass alles sich entwickeln muss, dürfen wir den Kontakt zur Familie nicht verlieren.
Fußballer in den Fußballverein
In meinem Bemühen, Kinder möglichst schnell ankommen zu lassen, wurde mir klar, dass dies unmöglich geschehen kann, wenn sich die Kinder und Eltern der Vorbereitungsklassen nicht mitten unter uns bewegen. Das Freizeitverhalten in unserer Gesellschaft ist kodiert, die Informationen hierzu nicht jedem gleichermaßen zugänglich. Es sind vielmehr Insiderinformationen. Deshalb beschloss ich relativ bald, die Freizeitaktivtäten der Kinder mit den Eltern gemeinsam zu organisieren. Die Fußballer/innen sollten in den Fußballverein, die Turner/innen in den Turnverein, die Musiker/innen in den Musikverein. Das stellte sich als schwieriger heraus, als gedacht. Eine Anmeldung im Schwimmverein konnte nur online durch viel Suchen erreicht werden. Der Musikverein hatte mehrere Gruppen, die Fußballvereine waren überfüllt.
Für eine einzige Anmeldung im Fußballverein musste ich mehrfach telefonieren und E-Mails schreiben. Alles auf Deutsch. Als dann alles abgesprochen, die Trainingszeiten geklärt und die Uhrzeiten aufgeschrieben waren, wusste die Familie nicht, wie sie hinkommen sollte. Also ging ich mit.
Wenn wir die migrierten Familien ernsthaft im System haben möchten, müssen wir die Kinder außerhalb der Schule in Freizeitaktivitäten unterbringen. Es ist daher einer der wichtigsten Bausteine meiner VKL-Arbeit. Denn die wenige Zeit, die sie in der Schule verbringen, reicht nicht aus, um ausreichend Deutsch zu sprechen. Eine wirkliche Integration erfordert entsprechende Strukturen und Unterstützung für diejenigen, die im wirklichen Leben dafür arbeiten.
In der Vorbereitungsklasse leisten wir fachlich und gesellschaftlich all die Arbeit, über die andere nur sprechen. Mehr als einmal habe ich erlebt, wie sich Biografien verändern, wenn man bereit ist, den Mensch zu sehen und nicht nur den Schüler, die Schülerin.