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Gutachten der SWK

Wie umgehen mit dem Lehrkräftemangel?

Protest und Häme erntete die SWK für ihre „Empfehlungen zum Umgang mit dem akuten Lehrkräftemangel“. Für die Satiresendungen „Heute Show“ und „Extra3“ waren sie eine Steilvorlage. Zu Recht? Eine sachliche Auseinandersetzung.

Frau steht vor einer Wand mit einem schwebenden roten Fragezeichen über dem Kopf.
Die SWK hat mit ihren Empfehlungen grundsätzliche Fragen nicht geklärt. Foto: © imago

Leider muss man bereits den Titel „Empfehlungen zum Umgang mit dem akuten Lehrkräftemangel“, den die Ständige Wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz (SWK) für ihr Gutachten gewählt hat, kritisch würdigen. Zwar ist der Lehrkräftemangel „akut“ im Sinne von vordringlich. Jedoch steckt in dem Begriff – laut Duden – ebenfalls „im Augenblick herrschend“.

Diese Charakterisierung ist schon Teil des Problems, denn der Mangel deutet sich „seit Jahren in Prognosen an“ und „wird aller Voraussicht nach in den kommenden 20 Jahren bestehen bleiben“, wie die Autor*innen selbst bekennen. Insofern können allenfalls die Empfehlungen als akut bezeichnet werden, der Mangel jedenfalls ist chronisch.

Wichtig und sinnvoll wiederum ist, dass die Autor*innen in ihrer Einführung die Bezüge vom Lehrkräftemangel zur Qualität des Unterrichts und zu den fachlichen Leistungen der Schüler*innen herausstellen. Auch die Probleme eines fachfremden Unterrichts werden klar benannt. „Qualifizierte Lehrkräfte sind nach übereinstimmender Befundlage der Bildungsforschung für den Lernerfolg von Schüler*innen unverzichtbar“, stellt die Ständige Wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz (SWK) zusammenfassend fest. Auf diesem Hintergrund sind die Empfehlungen, die auf eine „bestmögliche Ausschöpfung des vorhandenen Potenzials an Lehrkräften sowie an die Erweiterung des Potenzials […]“ abzielen, durchaus nachvollziehbar.

Der Ausbau von Initiativen zur Beschäftigung von Lehrkräften im Ruhestand, beziehungsweise über den Ruhestand hinaus, ist angesichts der demografischen Entwicklung eine Option. Der Charme der Maßnahme: Sie ist freiwillig. Sie ist aber nicht neu.

Bereits zum Schuljahr 2018 /2019 hat das Kultusministerium (KM) Baden-Württemberg in einem Rundschreiben die Pensionäre aufgerufen: „Helfen Sie mit, die Unterrichtsversorgung zu stabilisieren!“ 2021 wurden insgesamt 110 Deputate mit befristeten Einstellungen von Pensionären besetzt.

Begrenzung der Teilzeit

Strittiger dürfte die Idee sein, die altersbedingten Anrechnungsstunden von Lehrkräften für außerunterrichtliche Tätigkeiten vorzusehen, wie dies in Thüringen bereits möglich ist. Der Versuch, die Teilzeitquote der Lehrkräfte in Baden-Württemberg durch eine Erhöhung der Mindestarbeitszeit zu erreichen, hat bereits für großen Protest gesorgt.

Die Teilzeitquote liegt im Lehramt bundesweit bei 47 Prozent, im Durchschnitt aller Erwerbstätigen bei 29 Prozent. „Rein rechnerisch könnten durch eine Aufstockung aller Lehrkräfte, die 2020 in Teilzeit arbeiteten, auf Vollzeit-Stellen rund 205.000 Vollzeiteinheiten (VZE) geschaffen werden.“

Die SWK sieht in der Begrenzung der Teilzeit die größte Beschäftigungsreserve. Die SWK berücksichtigt dabei allerdings nicht, dass im Schulbereich überproportional viele Frauen arbeiten. Frauen sind in allen Beschäftigungsbereichen wesentlich öfter in Teilzeit beschäftigt. Baden-württembergische Lehrerinnen arbeiten anteilig sogar seltener in Teilzeit als Frauen um Bundesdurchschnitt. Inzwischen setzt die Landesregierung dennoch auch beim Thema Aufstockung der Arbeitszeit auf Freiwilligkeit.

Ebenfalls in die Empfehlungen der SWK hat es das Vorgriffstundenmodell geschafft. Dieses Modell wurde in den 90er-Jahren auf Initiative der GEW Baden-Württemberg für die Grund-, Haupt-, Real- und Sonderschulen (heute SBBZ) entwickelt und umgesetzt, um zusätzliche Einstellungen zu ermöglichen und Deputatserhöhungen zu verhindern. Von 1998 bis 2003 arbeiteten Lehrkräfte eine Unterrichtsstunde zusätzlich, bis 2008 arbeiten sie genauso lange wie bei Vertragsabschluss und von 2009 bis 2013 bekamen sie ihre Mehrleistung zurückerstattet.

Dies möchte die SWK aufgreifen, allerdings die zeitliche Zurückerstattung gegebenenfalls durch eine finanzielle Abgeltung ersetzen. Warum die Landesregierung den Vorschlag der GEW, über eine Neuauflage des Vorgriffstundenmodells zu verhandeln, nicht aufgreift, bleibt ihr Geheimnis.

Ein weiterer Vorschlag ist, Lehrkräften mit ausländischem Abschluss die Anerkennung zu erleichtern. Das könnte vor allem dadurch gelingen, dass die Bedingung von mindestens zwei Unterrichtsfächern gekippt wird.

Bessere Verteilung

Der Mangel an Lehrkräften ist regional unterschiedlich stark. Gemeinsam mit den Personalvertretungen sollen Anreize und Kriterien für befristete Abordnungen vereinbart werden, um eine gleichmäßigere Versorgung mit Lehrkräften zu erreichen.

Ein Klassiker ist der Vorschlag, Lehrkräfte von Organisations- und Verwaltungsarbeit zu entlasten. Die Einstellung von Verwaltungspersonal / nicht pädagogischem Personal setzt Ressourcen für den Unterricht frei. Soweit die Fachkräfte für diese Bereiche, zum Beispiel Verwaltung oder IT, tatsächlich gewonnen werden könnten, kann dies helfen. Allerdings kämpfen viele Branchen derzeit um Arbeits- und Fachkräfte, sodass auch diese Maßnahme an Grenzen stoßen dürfte.

Ein Mensch sitzt an einem Schreibtisch und wird von einem Stapel von Aktenordnern verdeckt.
Ein Klassiker ist der Vorschlag, ­Lehrkräfte von ­Organisations- und Verwaltungs­arbeit zu entlasten. Foto: © imago

An den unterschiedlichen Bedarfs- beziehungsweise Mangellagen setzt auch die „Weiterqualifizierung von Gymnasiallehrkräften“ an. Tatsächlich gibt es in einigen Fächern derzeit (noch) ein Überangebot an Gymnasiallehrkräften, während der eklatante Personalmangel vor allem Grundschulen und die Sekundarstufe I einschließlich der Sonderpädagogik trifft.

Der Vorteil dieser Idee liegt auf der Hand: Gymnasiallehrkräfte sind Lehrkräfte, sind also keine berufsfremde Einsteiger*innen und benötigen deshalb lediglich spezifisches Wissen der jeweiligen Schulform, in der sie eingesetzt werden sollen. Die SWK nennt hier „eine verpflichtende fachliche, fachdidaktische und pädagogisch-psychologische Weiterqualifizierung von Gymnasiallehrkräften für das Unterrichten an Grundschulen und nicht-gymnasialen Schulformen der Sekundarstufe I.

Auch weitere Maßnahmen wie „eine feste Ansprechperson im Kollegium“ oder „Anreize durch eine Einstellungsperspektive am Gymnasium“ sind schöne Ideen. Die SWK hätte stattdessen – oder als mittelfristiges Ziel – aber auch eine Reform der Lehrer*innenbildung mit dem klaren Ziel der Angleichung in Besoldung, Deputat und Laufbahn formulieren können, um so auch nicht-gymnasiale Lehrämter attraktiver zu machen und zu einer ausgeglicheneren Angebotslage zu kommen. Solange diese Unwucht besteht, braucht man sich über den eher verhaltenen Erfolg dieser Programme nicht zu wundern.

Natürlich wird in die Empfehlungen auch der große Bereich der Quereinsteiger*innen aufgegriffen. Jedes Bundesland hat eigene Regelungen und Qualifizierungsprogramme für nicht vollständig ausgebildete Lehrkräfte oder Seiten­einsteiger*innen. Ohne diese Kolleg*innen könnte ein Gutteil des Unterrichts nicht stattfinden.

Um die Qualität des Unterrichts zu sichern, empfiehlt die SWK unter anderem klare Anforderungsprofile für den konkreten Einsatz der Quereinsteiger*innen und die Gesamtverantwortung für die Gestaltung der Lehr-Lernprozesse grundsätzlich bei einer erfahrenen Lehrkraft zu belassen.

Klassengröße und ihre Folgen

Hybridunterricht, höhere ­Selbstlernzeiten und die Anpassung von Klassenfrequenzen sind weitere Stichpunkte aus der SWK-Stellungnahme. Mit Verweis auf Österreich und die Schweiz wird eine maßvolle Erhöhung der Klassengrößen als sinnvoll erachtet. Zur Legitimation weist die SWK – wie zuvor schon die OECD – auf den kaum belegbaren Zusammenhang zwischen Leistungsergebnissen der Schüler*innen und der Klassengröße hin.

Allerdings muss man diesen Aspekt von zwei Seiten betrachten: Dem unklaren Zusammenhang von Schüler*innenleistungen und Frequenz der Klasse steht der faktische Zusammenhang des Arbeitsaufwands der Lehrkräfte und der Klassengröße gegenüber: Mehr Eltern- und Beratungsgespräche, mehr Lernstandsberichte, mehr Korrekturen von Klassenarbeiten und weiteres dürften als Folge größerer Klassen unstrittig sein.

Klar ist, dass gerade die Klassengröße von den Lehrkräften mit Abstand am häufigsten als Belastungsfaktor genannt wird und der Vorschlag deshalb Konflikte auslösen wird. Ein anderer Aspekt ist die enorme Bandbreite von Klassenfrequenzen. Kleinste Grundschulen mit zehn Schüler*innen in einer Klasse auf der einen, volle Klassen mit 32 Schüler*innen an Realschulen oder Gymnasien auf der anderen Seite, sind ein Fakt.

„Lehrkräfte sehen die Klassengröße als größten Belastungsfaktor an.“

Die Empfehlung, eine systematische regionale Schulentwicklungsplanung – auch – mit dem Ziel ausgewogener Klassengrößen ist aus Gründen der Bildungsgerechtigkeit und der Arbeitsbelastung der Beschäftigten ein richtiger Ansatz. Im Zuge des eklatanten Mangels müssen auch Strukturen hinterfragt und verändert werden, vor allem dann, wenn sie die Bildungschancen der Kinder nicht befördern oder gar verhindern.

Den Abschluss der Empfehlungen bilden Maßnahmen zur Gesundheitsförderung. Angesichts der Belastungen ist es sicher richtig, die individuelle Fürsorge anzusprechen und entsprechende Angebote zu entwickeln. Allerdings handelt es sich bei den genannten Maßnahmen im Rahmen des Arbeits- und Gesundheitsschutzes um solche der Verhaltensprävention. Nach Arbeitsschutzgesetz sind aber vorrangig Maßnahmen der Verhältnisprävention zur Entlastung von Lehrkräften einzusetzen. Hierzu gehört zum Beispiel die bereits angesprochene Verkleinerung der Klassengrößen.

Es muss allerdings klar sein, dass dies reine Symptombekämpfung und kein Instrument zur Behebung des Lehrkräftemangels ist. Von Vorschlägen wie Achtsamkeitstraining und Mental-Health-Angeboten haben sich manche Lehrkräfte angesichts ihrer prekären Situation zu Recht auf den Arm genommen gefühlt.

Keine weitreichenden Änderungen vorgeschlagen

Die SWK, so das abschließende Fazit, hat weniger Empfehlungen abgegeben als vielmehr das bereits Praktizierte systematisch dargestellt, deren Wirkungen zum Teil mit Daten hinterlegt sind, und versucht, Qualitätskriterien einzuziehen. Strukturelle, langfristig wirksame Maßnahmen wurde nur angerissen (regionale Schulentwicklung).

Weitergehende und langfristig tragfähige Lösungen, wie sie Mark Rackles in seinem Beitrag „Wege aus dem Lehrkräftemangel“ skizziert hat, hätte man auch bei der SWK gerne gelesen. Denn: Der Lehrkräftemangel ist ein bundesweites Problem, der laut Rackles auch eine bundesweite Koordination und Anstrengung erfordert.

„Benötigen wir in Deutschland tatsächlich so viele Schulformen in der Sekundarstufe I?“

Nicht das gegenseitige Abwerben von Lehrkräften ist die Lösung, sondern eine verbindliche Zusammenarbeit des Bundes und der Länder: „Die Kapazitätsplanung im Bereich Lehrkräftebildung kann Gegenstand einer staatsvertraglichen Regelung sein, weil öffentliches Interesse an einer langfristigen und verbindlichen Absicherung der Bedarfsdeckung an Lehrkräften im gesamten Bundesgebiet besteht“ (Rackles 2022). Außerdem schlägt Rackles eine bundesweite Ausbildungsoffensive vor.

Die SWK hat es leider versäumt, weitreichende Änderungen des Schulsystems anzusprechen, die einerseits Synergieeffekte auslösen können, andererseits das Berufsbild für Lehrkräfte attraktiver zu machen. Benötigen wir in Deutschland tatsächlich so viele Schulformen in der Sekundarstufe I? Ist ein zu stark an Leistungskontrolle ausgerichteter Unterricht für jungen Menschen als Lehrkraft noch attraktiv? Sollte nicht gerade ein auf den jungen Menschen, seine Persönlichkeitsentwicklung und die Festigung einer demokratischen Gesellschaft ausgerichteter Unterricht diesen Beruf attraktiv machen?

Kontakt
Ute Kratzmeier
Referentin für allgemeinbildende Schulen
Telefon:  0711 21030-25