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Gemeinschaftsschule

Wie wichtig ist Barocklyrik?

Wir porträtieren zu den Personalrats­wahlen 2024 alle Schularten unter dem Aspekt des GEW-Mottos „Bildung. Mutig. Los!“. Vertreter*innen der Schickhardt-Gemeinschaftsschule in ­Stuttgart sprechen darüber, welche Bildung heute grundlegend ist.

Schickhardt-Gemeinschaftsschule Stuttgart
Die Gesprächspartner*innen wünschen sich von der GEW, dass sie sich für eine grundständige Bildungsreform starkmacht. (Foto: Evi Maziol)

Die Schickhardt-Gemeinschaftsschule im Stuttgarter Süden ist die einzige Gemeinschaftsschule in der Region, die eine Oberstufe anbietet. Entsprechend groß ist das Einzugsgebiet der Schüler*innen, die dort Abi machen möchten. Sie pendeln nicht nur aus ganz Stuttgart in den südlichen Stadtbezirk, sondern auch aus den Landkreisen Böblingen und Ludwigsburg. Auch Haupt- und Realschulen sucht man in dem Stadtteil vergeblich, nur ein Gymnasium mit gleichem Namen gibt es auf dem Campus. Allein das führt dazu: Die Schule ist groß, mit der Oberstufe sogar so groß, dass eine ehemalige Grund- und Hauptschule, die Heusteig­schule, als zusätzlicher Standort gebraucht wurde.

Die Klassen 5 bis 8 sind vierzügig, die Klassen 9 und 10 fünfzügig, die Oberstufenklasse 11 hat drei Parallelklassen, in die Kursstufe 1 gehen 65 Schüler*innen. 27 Schüler*innen sind in Kursstufe 2, sie sind der Starterjahrgang der Oberstufe. 2021 waren sie die ersten, die sich die Oberstufe an der ­Gemeinschaftsschule zutrauten. Die Schüler*innenzahlen der Nachfolgeklassen stiegen rasant. Ein Auslastungsproblem hat die Schule schon mal nicht.

Die Schule wächst aber nicht nur, weil die Schulangebote in Stuttgart den Schüler*innen wenig Wahl ließen. Auch das gemeinsame Lernen wird zunehmend geschätzt. Zum Schulhalbjahr kommt beispielsweise ein Mädchen mit sehr guten Noten aus einem Gymnasium an die Schule zurück. Sie kommt zurück, weil sie die Art zu lernen, wie sie es von der Gemeinschaftsschule kannte, vermisst und unglücklich war.

Ihre Rückkehr freut die Schule natürlich. Es bestätigt ihre Arbeit, und als leistungsstarke Schülerin stärkt das Mädchen auch die Lerngruppen. Die Schulleiterin, Sandra Vöhringer, verhehlt nicht, dass in der Eingangsstufe der Gemeinschaftsschule Schüler*innen mit Gymnasialempfehlung eher eine Ausnahme sind. „Das interessiert mich auch nicht“, sagt sie, „für mich ist entscheidend, mit welchem Abschluss sie die Schule verlassen.“ Bis dahin sollen die Schüler*innen Zeit haben, sich zu entwickeln. Die Schule möchte Potenziale erkennen und fördern. Hier schaffen auch Schüler*innen einen ordentlichen Abschluss, die in den anderen Schulen durchs Raster gefallen wären.

Wobei sich die Schickhardt-Gemeinschaftsschule mit der neu gegründeten Oberstufe erst noch bewähren muss. Sie steht unter Beobachtung, wie gut sich ihr Starterjahrgang bei den diesjährigen Abiturprüfungen schlägt. Der Abteilungsleiter für die Oberstufe, Sascha Müller, gibt sich gelassen. Er glaubt an seine Schüler*innen. Da die Schule mit dem nebenstehenden Gymnasium Kurse gemeinsam anbietet, beobachtet er gute und schlechte Schülerleistungen in beiden Schularten.

G9-Debatte

Wie beurteilen die Gesprächspartner*innen die aktuelle Debatte um G9? Niemand zweifelt mehr daran, dass G9 zurückkommt. Um den Zulauf an ihre Schule sorgen sie sich nicht. Es werde aber mehr Abschulungen aus den G9-Gymnasien geben, vermutet Müller. Schon jetzt würden die Gymnasien rund ein Drittel ihrer Schüler*innen verlieren. Mit G9 würden noch mehr Schüler*innen probieren, ob sie mit mit einem Jahr länger, das Gymnasium schaffen. „Viele Schüler*innen könnten auch woanders ihr Abitur machen. Dann bliebe ihnen Sitzenbleiben und Schulwechsel erspart. In Gemeinschaftsschulen können Schüler*innen über Erfolge ihren Weg gehen“, gibt der Abteilungsleiter zu Bedenken.

„G9 wird nichts retten. Die Studienergebnisse werden damit nicht besser. Die Landesregierung hat nicht verstanden, dass sich in der Bildung grundständig etwas ändern muss“, ist der Schulleiterin in der Debatte um G9 wichtig.

Was würde die Bildung retten? Was müsste jetzt passieren? Getreu dem GEW-Motto zu den Personalratswahlen: „Bildung. Mutig. Los!“?

Lehrkräfte müssten anders zugewiesen werden, findet Sandra Vöhringer. „In Deutschland gilt als gerecht, wenn alles gleichbehandelt wird“, moniert sie. Es müssten aber mehr Lehrkräfte dorthin kommen, wo die Not am größten ist. Beispielsweise dort, wo viele zugewanderte Kinder nicht ausreichend Deutsch können. Die Schickhardt-Gemeinschaftsschule besuchen Kinder aus aller Welt und oft wird zu Hause nicht Deutsch gesprochen. „Es wäre doch ein logischer Schritt, dass Lehrkräfte Zeit haben, mit diesen Kindern laufend Deutsch zu lernen. Wenn sich hier nichts ändert, sehe ich schwarz“, meint Vöhringer. „Wie sollen die Kinder sonst eine Chance bekommen?“ Ohne Deutschkenntnisse ließen sich auch keine PISA-Mathe-Aufgaben rechnen. Wie sollen die Studienergebnisse so besser werden?

„Wir verbringen viel Zeit mit Stoff, der an den Schüler*innen vorbeigeht. Sie können in ihrer Lebenswelt oft nirgends andocken.“ (Sandra Vöhringer, Schulleiterin)

Und die Lehrkräfteausbildung müsste sich ihrer Meinung nach ebenfalls grundlegend verändern. Alle Lehrkräfte ­müssten unabhängig von ihrer Schulart lernen, wie sie mit Heterogenität umgehen. Über die Hälfte der Lehrkräfte (42 von 81) an ihrer Schule sind Gymnasiallehrkräfte. „Sie sind bewusst zu uns an die Gemeinschaftsschule gekommen. Sie beherrschen den Stoff ihrer Fächer, sind aber auf die Aufgaben, die sie in der Gemeinschaftsschule erwarten, nicht vorbereitet“, berichtet die Schulleiterin.

Zwei anerkannte und erfahrene Lehrkräfte wurden deshalb an ihrer Schule zu Kulturbeauftragten ernannt. Sie begleiten neue Kolleg*innen ein Jahr lang und zeigen ihnen beispielsweise wie Lernentwicklungspläne oder Lernnachweise geschrieben werden. Neue Lehrkräfte erhalten zusätzlich verstärkte Unterstützung von der Schulsozialarbeit, von der Berufseinstiegsbegleitung, pädagogischen Fachkräften oder Inklu­sionslehrkräften.

Jörn Pfeifer, GEW-Personalrat am Schulamt Stuttgart und Lehrer an der Schickhardt-Schule, betont, dass auch die Personalräte und die Beauftragte für Chancengleichheit an der Einführung neuer Lehrkräfte beteiligt seien. „Die Personalräte für Gemeinschaftsschulen sind zwar nicht direkt den Schulen zugeordnet, wie es Gymnasiallehrkräfte von ihren Schulen gewohnt sind, sie sind über das Schulamt aber ansprechbar. „Mich kann man jederzeit fragen“, sagt er.

Die Schulleiterin, Sandra Vöhringer (links), und der Abteilungsleiter für die Oberstufe, Sascha Müller (rechts), im Gespräch.
Die Schulleiterin, Sandra Vöhringer (links), und der Abteilungsleiter für die Oberstufe, Sascha Müller (rechts), im Gespräch. (Foto: Evi Maziol)

Was Bildung heute bedeutet

Die nächste grundlegende Frage, wenn man über Veränderungen nachdenkt, lautet: Welche Bildung ist heute grundlegend?

„Wir verbringen viel Zeit mit Stoff, der an den Schüler*innen vorbeigeht. Sie können in ihrer Lebenswelt oft nirgends andocken“, weiß Vöhringer. Sie plädiert für exemplarisches Lernen. „Wer das Wesen einer Revolution verstanden hat, muss nicht alle kennen.“

Was ist mit Barocklyrik? Kann das wichtig sein, wenn viele Schüler*innen kaum einen geraden Satz schreiben können? Sascha Müller ist auch Deutschlehrer. Er kann Barocklyrik viel abgewinnen, wünscht sich aber mehr Flexibilität, damit Lehrkräfte selbst entscheiden können, was Schüler*innen und Lerngruppen gerade brauchen. Er wirbt dafür, auch mutig Inhalte wegzulassen. Müller hat beispielsweise in seinem zweiten Fach Geschichte in einer Klasse den 2. Weltkrieg nicht behandelt. „Die Luft war raus“, erklärt er. Stattdessen ließ er die Schüler*innen GLK-Protokolle der Schule von 1943, die in Sütterlin verfasst sind, in die heutige Schrift transkribieren. Die Protokolle stellten die Arbeits- und Lebensbedingungen von Lehrkräften und Schüler*innen zu dieser Zeit zur Schau. „Die Nuss knackt ihr jetzt“, hat er verlangt. Müller ist es wichtig, dass sich Schüler*innen auch mal in ein Thema reinbeißen müssen. Durch das Smartphone und die Digitalisierung geben Schüler*innen seiner Beobachtung nach viel zu schnell auf und bleiben an Aufgaben nicht dran. Die schriftliche Ausdrucksfähigkeit macht ihm auch Sorgen. Wenn er Klausuren korrigiert, schaudert es ihn das ein oder andere Mal. Lesenächte, Mathetage, Projekte, all das könnte den Schüler*innen helfen.

„Wir sind nah an den Schüler*innen und verlässlich für sie da, wir wissen, was ihnen guttut“, ergänzt Jörn Pfeifer.

Fazit der drei Lehrkräfte: Wir sind Fachleute und sollten das tun, was Schüler*innen nützt und situationsbedingt nötig ist. Lehrkräfte sollten sich an den Kindern orientieren und nicht den Stoff in den Vordergrund schieben. Nicht an Vorgaben kleben, erfordert allerdings Erfahrung, Sicherheit und viel Mut. Müller hat später seinen Schüler*innen noch gezeigt, wo sie weitere Informationen zum 2. Weltkrieg finden. Nachlesen können sie auch ohne ihn.

Was Lehrkräfte und Schulleitungen brauchen

Was brauchen Lehrkräfte und Schulleitungen selbst, um Mut und Kraft nicht zu verlieren?

„Wir müssen zu viel Verwaltungskram erledigen: Listen führen, Eltern anrufen, Unterschriften sammeln und vieles andere mehr“, schildert Pfeifer seine sachfremden Aufgaben. Die Schulleiterin kann ebenfalls viel Arbeit aufzählen, die sie davon abhält, das zu tun, was ihr wichtig wäre. Zum Nachdenken, für Elternbriefe, für Schulentwicklung bleibt nicht viel Zeit. Vöhringer versteht nicht, warum es keine Schulverwaltungsassistenz an Schulen gibt, warum es so schwer ist, Schulen eine einheitliche Bildungsplattform anzubieten und warum immer noch jede Schule mit der Technik und der Digitalisierung kämpfen muss und es nicht längst externe Kräfte gibt, die das den Schulen abnehmen.

Problematisch findet Müller, der selbst Gymnasiallehrer ist, dass die Gehaltsunterschiede der Lehrkräfte an der Gemeinschaftsschule so groß sind. Die Spannweite reicht von A9 für Fachlehrkräfte bis zu A15 für ihn als Abteilungsleiter und A16 für die Leitung der großen Schule. Besonders ungerecht findet er, dass Haupt- und Realschullehrkräfte keine Aufstiegsmöglichkeiten haben und über A13 nie hinauskommen.

Von der GEW wünschen sie sich, den Weg zu einer Schule für alle mutig weiterzugehen und einzufordern. Die Bildungsgewerkschaft soll sich für eine grundständige Bildungsreform starkmachen und sich nicht im Klein-Klein verlieren.

Kontakt
Maria Jeggle
Redakteurin b&w
Telefon:  0711 21030-36