Laut Schulgesetz ist für die Einrichtung einer gymnasialen Oberstufe erforderlich, dass „für Klassenstufe 11 auf der Grundlage der Schülerzahl in Klassenstufe 9 die Mindestschülerzahl von 60 langfristig prognostiziert werden kann.“ Daher lauten die Fragestellungen, die die Universität Tübingen für die Untersuchung zugrunde gelegt hat, wie folgt:
1. „Kann am Standort Tübingen die Schülerzahl 60 (zum Schuljahr 2016/17) für die Einrichtung einer Oberstufe nach § 8a SchulG-BW realistischerweise erreicht werden?“
2. „Welche Folgen wären mit der Einrichtung einer solchen Oberstufe vor allem für die beruflichen Gymnasien und die weiteren Gymnasialstandorte in Tübingen verbunden?“
Die Studie im Auftrag der Stadt Tübingen untersucht die dortigen Voraussetzungen. Die angewandten Prognoseinstrumente sind jedoch auch auf andere Gemeinschaftschulstandorte übertragbar.
Erreichbarkeit der Mindestgröße
Die Studie legt offen, dass die Übergangsmodalitäten an eine gymnasiale Oberstufe einer Gemeinschaftsschule ungeklärt sind. Die klassische Notenhürde fällt für Gemeinschaftsschulen weg. Als Bewertungsgrundlage könnten die Niveaus herangezogen werden, auf denen die Schüler/innen unterrichtet werden, oder auch die freie Eltern-/Schülerwahl.
Für die Berechnung der Tragfähigkeit einer Oberstufe ist die Prognose der künftigen Schülerzahlen und der Schülerströme maßgebend. Tübingen gehört zu den Städten in Baden-Württemberg, die keinen Rückgang der Schülerzahlen zu erwarten haben. Die Bildungsaspiration der Tübinger Eltern ist hoch, was sich in einem überdurchschnittlich hohen Anteil an Grundschulempfehlungen für Gymnasien zeigt. Eine weitere Besonderheit ist, dass es in Tübingen nur noch eine Haupt-/Werkrealschule und eine nur noch knapp zweizügige Realschule gibt. Das Zwei-Säulen-System mit Gemeinschaftsschulen und allgemeinbildenden Gymnasien ist in Tübingen also schon weitgehend realisiert.
In der Studie wurden in verschiedenen Übergangsszenarien folgende Parameter zugrunde gelegt:
• Anzahl der Schüler/innen auf M-Niveau
• Anzahl der Schüler/innen auf E-Niveau
• mit jeweils zweiter Fremdsprache
• und der Annahme spezifischen Übergangsquoten je nach Niveau
• sowie einem bestimmten Anteil von Schüler/innen aus den umliegenden GMS
Auf Grundlagen der Schülerzahlen der jetzigen 7. Klassen wurden verschiedene Berechnungen durchgeführt. Man ging davon aus, dass 90 Prozent der Schüler/innen auf E-Niveau an den Tübinger Gemeinschaftsschulen eine Oberstufe besuchen werden, dass dies zwischen 20 und 70 Prozent der Schüler/innen auf M-Niveau tun würden und dass zudem zwischen 5 und 10 Prozent der Schüler aus umliegenden Gemeinschaftsschulen dazukämen. Trotz der durchweg sehr defensiven Annahmen würde in allen berechneten Szenarien die Mindestschülerzahl von 60 übertroffen.
In einem weiteren Schritt wurde versucht, die Auswirkungen einer GMS-Oberstufe auf die beruflichen und allgemeinbildenden Gymnasien abzuschätzen. Es ist plausibel, dass die Verfasser/innen der Studie annehmen, dass ohne die Einrichtung einer Oberstufe mehr oberstufenberechtigte Schüler/innen der Gemeinschaftsschulen an ein berufliches Gymnasium als an ein G8-Gymnasium wechseln würden. In den Prognosen wurde deshalb der Anteil der Schüler/innen, die rechnerisch bei den allgemeinbildenden Gymnasien fehlen würden, auf ein Drittel und bei den beruflichen Gymnasien auf zwei Drittel festgelegt. In absoluten Zahlen bedeutet dies 36 bis 50 Schüler/innen weniger an den allgemeinbildenden Gymnasien und ca. 70 bis 100 Schüler/innen weniger bei den beruflichen Gymnasien.
Da sich diese Zahlen jedoch auf alle Standorte verteilen, ergäben sich für die allgemeinbildenden Gymnasien keine oder kaum messbare Auswirkungen, zumal es sich bei den Tübinger Gymnasien durchweg um mindestens vierzügige Schulen handelt.
Die Effekte bei den beruflichen Gymnasien könnten stärker sein, vor allem dann, wenn sich ein großer Teil der fehlenden Schüler/innen auf einen bestimmten Bildungsgang konzentrieren würde. Allerdings würde sich auch bei pessimistischsten Annahmen keine Gefährdung eines berufliche Gymnasiums ergeben, da diese Schulen sehr gut ausgelastet sind und aufgrund des breiten Angebots auch von einer Verteilung auf die verschiedenen Angebote auszugehen ist.
Wie sehen die Akteure aus den allgemeinbildenden und beruflichen Gymnasien, aus den Gemeinschaftsschulen und Realschulen, aus der Schulverwaltung und der Elternschaft die Einrichtung einer Oberstufe an einer Gemeinschaftsschule? Zu dieser Frage wurden Interviews geführt.
Die Lehrkräfte der allgemeinbildenden Gymnasien sehen die GMS-Oberstufe „konstruktiv-kritisch bis umfassend ablehnend.“ Dabei überwiegen die Befürchtungen. Zwar wird gesehen, dass durch eine Oberstufe das Konzept der Gemeinschaftsschule insgesamt verbessert werden könnte und dass es für Gymnasiallehrer/innen dadurch attraktiver würde, an einer Gemeinschaftsschule zu unterrichten. Eingewandt wird jedoch, dass für die bestehenden Oberstufen weniger finanzielle Mittel bereit stehen könnten. Außerdem wird das existierende Angebot als ausreichend und gut etabliert bewertet. Für die Lehrkräfte könnten nicht zuletzt zusätzliche Arbeitsbelastungen durch Koordination und Kooperationsaufgaben mit der Gemeinschaftsschule entstehen. Jedoch: „Als ungute Konkurrenz für die Gymnasien wird die Oberstufe an Gemeinschaftsschule nicht empfunden.“.
Anders sehen dies die Beschäftigten an den berufliche Schulen: Hier herrscht eine durchweg starke Ablehnung vor. Diese wird begründet mit
• dem Risiko, dass wichtige finanzielle Ressourcen verloren gehen,
• der mangelnden Attraktivität des Vorhabens, da bereits beliebte Angebote vorhanden sind,
• dem Risiko, dass sich eine ungünstige Konkurrenzsituation entwickelt,
• dem Risiko, dass das Berufskolleg an Schülerzahlen verliert,
• dem Risiko, dass die Vielfalt der Profile der beruflichen Schulen verloren gehen könnte.
Wenig überraschend zeigt sich eine ganz andere Bewertung bei den Lehrer/innen der Gemeinschaftsschulen. Sie werten die Oberstufe an ihrer Schulart als wesentliches Element der Vervollständigung des Gemeinschaftsschul-Konzeptes und als gute Grundlage für Kooperationen mit der Sekundarstufe II der allgemeinbildenden Gymnasien. Bedeutend ist das Argument, dass die Sekundarstufe I dadurch deutlich aufgewertet würde und die Anreize für weitere Kinder mit gymnasialer Grundschulempfehlung, an eine Gemeinschaftsschule zu gehen, verstärkt werden. Eine pädagogische Argumentation geht dahin, dass eine GMS-Oberstufe eine Stärkung inklusiver Bildungsangebote in Tübingen bedeutet.
Die Position der Eltern ist uneinheitlich. Sie nennen alle bisher genannten positiven und negativen Aspekte, die mit der Einrichtung einer Oberstufe an GMS verbunden sein könnten. Ähnlich plural zeigt sich die Auffassung der Schulverwaltungsbeschäftigten. Sie sehen die Entfaltungsmöglichkeiten und die Konsistenz des GMS-Konzepts mit Oberstufe ebenso wie die Probleme der Konkurrenz und kostspieliger Doppelstrukturen.
Klare Parameter fehlen
Auch wenn sich die Studie dezidiert mit der besonderen Tübinger Situation befasst, lassen sich doch einige Aspekte für künftige landesweite Prognosekriterien zur Einrichtung einer Oberstufe ableiten. Es braucht, analog zum bisherigen Verfahren der regionalen Schulentwicklung, klare Parameter zur Ermittlung der quantitativen Voraussetzungen, ergo: zur Prognose der potenziellen Schülerzahl. In diese Verfahren muss das regionale Schulangebot mit dem bisherigen Ein- und Auspendler-Verhalten ebenso einfließen wie die Bildungsaspiration und das Leistungsniveau der Schüler/innen.
In gleicher Weise sollte das Verfahren sehr stark auf den Austausch und den Interessenausgleich der Beteiligten setzen. Die Pro- und Contra-Argumente der Studie finden sich mit Sicherheit auch bei anderen Oberstufen-Diskussionen wieder. Sie können durch transparente und abwägende Verfahren nicht immer ausgeräumt werden. Gleichwohl erhöht sich so die Legitimation der Entscheidung. In Tübingen wurde hierzu mit einem Fachtag zur regionalen Schulentwicklung ein Anfang gemacht. Der Fachtag wurde von Stadt und Kreis gemeinsam veranstaltet und von der Schulverwaltung moderiert.
Die Gegensätzlichkeit der Sichtweisen macht auch deutlich: Man wird das Verfahren zur Einrichtung von Oberstufen an Gemeinschaftsschule nicht so gestalten können, dass allen gedient ist. Die Politik muss deutlich machen, wie sie diese Frage grundsätzlich beantworten will. Die Gestaltung der Oberstufe an Gemeinschaftsschulen entscheidet über die Wertigkeit der Schulart Gemeinschaftsschule neben dem Gymnasium in einem Zwei-Säulen-System.