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Im Ausland studieren

Erasmus in Lissabon statt Corona in Konstanz

Carla Neckermann studiert Politik- und Verwaltungswissenschaft. Über das Erasmusprogramm verbringt sie ein Semester in Lissabon und berichtet von den positiven und anstrengenden Seiten eines Auslandssemesters.

Carla Neckermann
Das Leben im Ausland macht unabhängiger, selbstbewusster und abenteuerlustiger.

In meinem ersten Semester war der Auslandsaufenthalt noch sehr weit hin. Sicher, irgendwann würden wir alle ins Ausland gehen, da der Auslandsaufenthalt in meinem Studiengang Politik- und Verwaltungswissenschaft verpflichtend ist. Aber erst der Studienstart, dann die Corona-Semester. Da fühlt sich ein Studium im Ausland ganz weit weg an. Aber plötzlich steht es doch vor der Tür, man besucht eine Online-Infoveranstaltung nach der anderen und soll dann auch schon eine Liste mit Städten erstellen, in denen man sein nächstes Semester verbringen möchte.

Manche meiner Freund*innen wissen schon seit dem ersten Semester, wo sie ihr Auslandssemester verbringen möchten. Ich entscheide mich eher, welche Universitäten interessant klingen. Auch durch Erfahrungsberichte meiner Kommiliton*innen lege ich fest: Auf den ersten Plätzen stehen zwei Universitäten in Lissabon, dann kommt Ljubljana und den vierten Platz belegt Budapest. An meinen Fachbereich richte ich ein Motivationsschreiben für die erste Universität in Lissabon. Dies dient zusammen mit meinen Noten und sonstigem Engagement als Grundlage dafür, ob sich mein Wunsch erfüllt. Das ist der Fall und ich bekomme die Zusage für die ISCTE – University Institute of Lisbon.

Die Formulare, die ich für den Aufenthalt ausfüllen muss, klingen zunächst wahnsinnig verwirrend: OLS-Sprachtest, Grant Agreement, Learning Agreement – das einzige, bei dem wir Studierenden alle zu einem Agreement kommen: Wir blicken nicht ganz durch. Die Rettung heißt „Mobility Online“ und ist ein Portal, wo alle auszufüllenden Formulare aufgelistet sind. Damit wird alles auf einen Schlag viel übersichtlicher! Das Grant Agreement dient beispielsweise dazu, dass mir eine Fördersumme von der EU ausgezahlt wird. Sie ist an das jeweilige Land angepasst und liegt zwischen 330 und 450 Euro im Monat. Außerdem müssen wir alle einen Sprachtest in der Landessprache absolvieren. Studiert man nicht in dieser Sprache, nimmt man Englisch. Dieser Test wird nach dem Erasmussemester wiederholt, um zu schauen, ob sich die Kenntnisse verbessert haben.

Viel zu organisieren, der Überblick kommt mit der Zeit

Für das Learning Agreement muss ich die Kurse, die ich in Lissabon belegen möchte, mit meinem Fachbereich abklären, damit ich sie mir danach anrechnen lassen kann. Hier gibt es oft Chaos, denn die Kursübersichten in den Gastuniversitäten sind teilweise nicht aktuell, sodass die Wahl nach Beginn des Semesters noch einmal angepasst werden muss. Die ISCTE organisiert ihre Kurswahl nach dem Prinzip „Survival of the fittest“, beziehungsweise „Die beste Internetverbindung hat Glück gehabt“. Als das Buchungsportal geöffnet wird, ist es komplett überfordert und stürzt ständig ab. Am Ende stehe ich mit einem Marketingkurs da, den ich überhaupt nicht wählen wollte. Alles andere war leider schon belegt oder nicht anrechenbar.

Auch eine Wohnung in der neuen Stadt muss natürlich organisiert werden. Viele meiner Kommiliton*innen landen in einem Wohnheim, wo es leicht ist, neue Menschen kennenzulernen. Ich habe Glück. Ein Freund hat sein Erasmussemester fünf Jahre vor mir ebenfalls in Lissabon verbracht und gibt mir die Nummer seiner damaligen Vermieterin. Nach ein paar Whatsapp-Nachrichten habe ich tatsächlich schon ein Zimmer in einer Siebener-WG. Schneller als gedacht ist der 6. September da und ich stehe in besagter Wohnung. Mit dabei ist Naomie, eine Freundin aus Konstanz, die allerdings an einer anderen Universität in Lissabon studiert. Den Unterschied zwischen unseren Unis merken wir schnell!

Das Erasmusprogramm ist ein Förderprogramm der Europäischen Union, das Auslandsaufenthalte an Universitäten innerhalb Europas fördert. Außerhalb Europas wird der Aufenthalt durch „Erasmus Mundus“ finanziert. Seit 2014 ist Erasmus zusammen mit anderen Programmen unter dem Begriff „Erasmus+“ zusammengefasst. Das beinhaltet auch Bereiche wie Sport und berufliche Weiterbildung. Seinen Namen verdankt das Programm Erasmus von Rotterdam, einem Humanisten der Renaissance.

Meine Zeit an der ISCTE startet mit unzähligen „Welcome-Veranstaltungen“: Ich gehe wandern, mache einen Stadtrundgang, fahre nach Sintra und besuche eine Bootparty. Naomies Universität organisiert nichts. Das ist vorab schwer einzuschätzen, macht aber einen großen Unterschied beim Ankommen aus. In den ersten Tagen ist der Druck groß, neue Bekanntschaften zu machen. Auch wenn die Angebote sinnvoll sind, empfinde ich es teilweise sogar sehr anstrengend und träume selbst nachts noch von „What’s your name again? Where are you from? What are you studying?“. Das wird besser, nachdem sich Freund*innen gefunden haben, mit denen ich mich wohlfühle und schnell über das Smalltalk-Level hinauskomme.

Die Kurse beginnen im Ausland fast überall früher als in Deutschland, meist Anfang September, und es geht schneller los, als ich es gewohnt bin. Bei uns fängt das Semester gemächlich an, man liest zwischendurch ein paar Texte und setzt sich erst in der Klausurenphase richtig ran. An der ISCTE wird sehr viel Wert auf Gruppenarbeiten und Abgaben während des Semesters gelegt. In meinen knapp vier Monaten halte ich in Lissabon insgesamt fünf Präsentationen und schreibe vier Paper mit meinen „Work Groups“. Und die finalen Prüfungen habe ich noch gar nicht erwähnt! Manche der Kurse finden drei Mal pro Woche statt, was die Anwesenheit an der Universität deutlich erhöht. Anwesenheit! Alle meine Kurse finden in Präsenz statt, was mich sehr freut. Nicht nur in Portugal, auch in anderen Ländern, in denen Freund*innen sich aufhalten, wird wieder in persona gelehrt.

Manches ist stressiger, manches schöner

Abgesehen von der Uni bleibt aber trotzdem viel Zeit, Portugal zu erkunden. Das Erasmus-Klischee von ständigen Partys wird auf jeden Fall erfüllt. Aber ich besuche auch Kultureinrichtungen, botanische Gärten und kleine Cafés in Lissabon oder mache Ausflüge ins Umland. Auch das Surfen werde ich in Konstanz vermissen. Hier merkt man auch klar den Unterschied zwischen einem Semester im Süden und dem Norden. Während wir noch in kurzen Hosen herumspazieren, am Wochenende an den nahegelegenen Strand fahren und bis spät in die Nacht draußen sind, schicken Kommiliton*innen aus Schweden schon Schneebilder. An Wochenenden fahren wir auch weiter weg, beispielsweise an die Algarve oder in Städte wie Nazaré, Porto und Coimbra. Das ist in Portugal recht günstig, da es Fernbusse an viele Orte gibt und die Wohnungen außerhalb der Saison einen niedrigeren Preis haben.

Auch sprachlich gesehen ist Portugal für mich die richtige Wahl. Ich konnte davor kein Portugiesisch, belege hier aber zwei Mal wöchentlich einen Sprachkurs an der Uni. Da ich Spanisch und Französisch spreche, dauert es nicht lange, bis ich erste Sätze sprechen und mich beim Einkaufen verständlich machen kann. Ob man die Landessprache kann oder nicht, ist wichtig, da es in Ländern wie Frankreich oder Italien teilweise kaum oder gar nicht möglich ist, Kurse auf Englisch zu belegen. In Portugal geht das gut. Trotzdem kann ich nebenher eine neue Sprache lernen, was mir großen Spaß macht.

Ich würde künftigen Erasmusstudierenden raten, nicht zu viel Besuch einzuladen. Das Leben im Ausland ist aufregend und man muss sich an so viel Neues gewöhnen, dass es störend ist, wenn dieser Prozess ständig unterbrochen wird. Bis vor einem Jahr hat mir der Gedanke, von einem Tag auf den anderen im Ausland zu leben und zu studieren, immer ein bisschen Angst gemacht. Jetzt habe ich herausgefunden: Es ist gar nicht so schwer, neue Freundschaften zu schließen, eine neue Universität kennenzulernen und Supermärkte zu finden, in denen ich veganen Joghurt kaufen kann, selbst wenn man die Landessprache nicht spricht. Irgendwie bekommt man doch alles sehr gut hin. Und es macht mich unabhängiger, selbstbewusster und abenteuerlustiger. Definitiv nichts, was ich verpassen möchte!

Kontakt
Maria Jeggle
Redakteurin b&w
Telefon:  0711 21030-36