Ehrenamtliche Begleitung von jungen Geflüchteten
Hitler war doch kein Arier!?
Seit 2015 hat sich Michael Kuckenburg, pensionierter Gymnasiallehrer, in Tübingen um schulische Probleme und Alltag mehrerer junger Migrant*innen gekümmert. Einige seiner sehr unterschiedlichen Erfahrungen schildert er hier.
Elenya* hat meistens eine Art Skimütze auf, Kompromiss zwischen eigenem Freiheitsdrang und dem Konformitätsdruck der arabischen Community. Seit drei Jahren treffe ich sie samstags in der Stadtbibliothek. Sie wird kommenden Sommer Abitur an einem beruflichen Gymnasium machen, vermutlich mit einem Schnitt knapp besser als 3,0.
Kennengelernt habe ich sie an der Gemeinschaftsschule West. Damals waren sie noch zu fünft. Im Herbst 2015 sind die Jugendlichen aus Syrien über die Türkei und die Balkanroute nach Deutschland gekommen: Dilan ist Kurde, sein Vetter ist als YPG-Kämpfer vor zwei Jahren von einer türkischen Granate getötet worden. Hamoudis Vater ist vor fünf Jahren in einem Gefängnis Assads verschwunden; er ist mit seinem Vetter Enis hier, ihre Mütter haben sie vor dem Regime in Sicherheit gebracht. Bei Daja das Gegenteil: Ihr Vater arbeitet für die Regierung, die Eltern haben sie vor den Rebellen in Sicherheit gebracht.
Syrien im Klassenzimmer
Die zerrissene, irre Gegenwart Syriens in einer Tübinger Schulklasse. Bloß verbringen sie hier teilweise gemeinsam ihre Freizeit, sind „über Assad hinweg“ womöglich befreundet, auf jeden Fall nicht zerstritten: Hoffnung auf einen Versöhnungsprozess in Syrien, zumindest in der jungen Generation. Zurück möchte allerdings niemand von ihnen. Elenyas Situation ist noch einmal anders. Ihr Vater war syrischer Palästinenser und ist bei einem Unfall ums Leben gekommen, ihre Mutter, ebenfalls aus Syrien, lebt in Jordanien und ist Zahnärztin (Elenya besucht sie gelegentlich). Eigentlich ist Elenya ein klassischer Fall von erfolgsorientierter Zuwanderung: Sie will Medizintechnik studieren und wäre insofern ein Gewinn für Deutschland. Syrien bräuchte sie – nach Ende des Bürgerkriegs – dringender für den Wiederaufbau; nur: Habe ich das Recht ihr vorzuschreiben, wo oder wie sie glücklich werden möchte?
Davin war beim Treffen heute glücklich: „Ich habe eine 4,2 in der Deutscharbeit!“ In anderen Fächern hat er Noten zwischen Zwei und Drei (in Mathe Eins); und wenn er keine Fünf in Deutsch bekommt, kann er nach der jetzigen zehnten Klasse aufs Gymi wechseln.
Nachteilsausgleich für Hochbegabten
Wir treffen uns seit diesem Schuljahr immer freitags nach Unterrichtsende in der Gemeinschaftsschule West. Die größten Probleme gibt’s im Deutschunterricht: Davin spricht für die vier Jahre in Deutschland fantastisch Deutsch, aber bei Klassenarbeiten braucht er einfach länger als andere, um die Texte zu verstehen, und hat dann weniger Zeit für die Bearbeitung. Er wird künftig Nachteilsausgleich kriegen und die Texte früher zu lesen bekommen.
In Geschichte war kürzlich das Ermächtigungsgesetz dran: „War der Hitler ein Guter oder ein Böser?“ – „Er hat versucht, die ganze Welt glücklich zu machen, das hat aber nicht geklappt.“ Von einem 18-jährigen Biodeutschen wäre das eine katastrophale Antwort, von einem 18-jährigen aus dem Iran, der dort wegen seines aus Afghanistan geflohenen Vaters (obendrein noch Sunnit in diesem schiitischen Land) weder Papiere noch Zukunftschancen hatte, kann man keine Kenntnisse über die Nazis erwarten. Davin hat inzwischen nachgelesen: Hitler war ein schlechter Mensch! Eines versteht er allerdings nicht: „Wieso hat Hitler geglaubt, die Deutschen sind Arier? Die Arier kommen doch aus Iran!?“
Davin hat eine enorm rasche Auffassungsgabe, ist – wirklich! – ganz ungewöhnlich stark interessiert. Heute hat er mich gefragt, welche Adressaten-Wirkung die rhetorischen Mittel Ironie und Alliteration haben – das wollte in 39 Berufsjahren kaum jemand von mir wissen. Trotzdem, es gibt noch eine Menge zu besprechen; von CDU, SPD, Grünen weiß er wenig, von AfD und Al Khaida hat er noch nichts gehört. In den letzten Wochen schläft er sehr schlecht, hat auch dauernd Magenschmerzen: Sein Vater möchte sich von Davins Mutter (seiner zweiten Frau) trennen.
Vermutlich kann ich mir einfach zu wenig vorstellen, was ein junger Mensch in einer völlig fremden Welt alles bewältigen muss. Ich bin 1947 geboren, 1955 mit meinen Eltern aus der DDR abgehauen. Diese jungen Erwachsenen haben, bevor sie 20 Jahre alt geworden sind, mehr erleben müssen als ich und vermutlich die meisten aus meiner Generation. Ihre positive Einstellung, ihr Fleiß, ihre Anstrengungen, sich zu integrieren ,machen mir Hoffnung für ihre Zukunft.
Aber es gibt auch anderes. Mehrere junge Iraker oder Jesiden, die mir das Asylzentrum Tübingen vermittelt hat, sind zum vereinbarten Termin nicht erschienen. Auch Dilan, Hamoudi, Daja, Enis sind plötzlich weggeblieben, keine Verabschiedung oder Abmeldung. Sie waren einfach weg. Und dann gibt es noch Ousman.
„Immer Angst“
Ousman kommt aus Gambia und dort aus einem besonders rückständigen Gebiet im Osten des Landes. Im September 2015 habe ich im Tübinger Asylzentrum angefragt, ob es jemand gebe, um den ich mich kümmern könnte; Ousman kam in diesem Moment zur Tür rein. Laut Ausweis ist er im Juni 1995 geboren, nach Deutschland kam er 2013 über Senegal-Mali-Niger-Libyen, von dort per 24-Stunden-Schlauchboot nach Lampedusa. „Hattest du da keine Angst?“ (Er ist Nichtschwimmer) – „Immer Angst.“ Wie er von Lampedusa nach Deutschland gekommen ist, wollte er nicht so genau sagen.
Sagen? Ousman hat auch nach vier Jahren noch keinen einzigen Satz auf Deutsch sprechen können, die Kommunikation mit ihm ging über ein Knäuel deutscher und englischer Brocken, über ein Mandinka-Wörterbuch, über Gestik und Mimik. Bei wichtigen Anlässen hat ein Gambier aus einer Nachbargemeinde geholfen, der seit 20 Jahren hier lebt. Gerade für Ousman wäre intensivere Kommunikation wichtig gewesen; aber er ist nur sehr unregelmäßig zum Deutschkurs beim IB gegangen, und dort hat er sich regelmäßig mit der weißrussischen Lehrerin angelegt. Bei jedem Test hat er die Mindestmarke deutlich unterschritten.
Leute aus Gambia haben in Tübingen einen schlechten Ruf: Sie verticken im Alten Botanischen Garten Drogen. Ousmans erster Zimmernachbar ist als Dealer verurteilt worden. Er selbst hat, hoffe ich, nicht gedealt. Dafür hat er andere Probleme gehabt: Er hat regelmäßig sofort nach Geldeingang auf seinem Konto 150 Euro an seine Mutter überwiesen, den Rest hat er in bar abgehoben. Geld hat für ihn nur in greifbarer Form existiert.
Deshalb konnte er auch die Bußgelder fürs Schwarzfahren mit der Ammertalbahn nicht bezahlen, für die fälligen Mahngebühren hatte er erst recht kein Geld; die habe ich bezahlt, insgesamt drei Mal. Ähnliches mit dem Fitness-Studio: Er hat die monatlichen Gebühren nicht bezahlen können, die Mahngebühren (313,87 Euro) natürlich auch nicht. Als dann das Studio mit gerichtlichem Mahnbescheid und Zwangsvollstreckung gedroht hat, habe ich zurückgedroht, den Fall (sie hatten einen Vertrag mit einem offensichtlich nicht Geschäftsfähigen abgeschlossen) öffentlich zu machen. Danach haben sie’s gelassen.
Wozu Parfumtester?
Während dieser Streitigkeiten Anfang 2017 ist Ousmans Asylantrag abgelehnt worden. Er hatte als Asylgrund angegeben, dass er in Gambia mehrere Freunde um etliches Geld betrogen habe und deshalb bei seiner Rückkehr um seine Gesundheit fürchten müsse; das hat das BAMF nicht anerkannt. Ousman hat mit Unterstützung des Asylzentrums Widerspruch beim Verwaltungsgericht Sigmaringen eingelegt; ob der Erfolg hatte, weiß ich nicht.
Denn im Juli habe ich Ousman auf dringendes Anraten eines Hautarztes (er hatte chronische und schmerzhafte Exzeme an den Füßen) Sandalen gekauft, zwei Stunden später hat die Schule angerufen: Die Polizei hat ihn gerade aus dem Unterricht geholt, er ist beim Klauen eines Parfumtesters erwischt worden – eines Parfumtesters! Den braucht er höchstens zum Weiterverticken. Darauf habe ich den Kontakt abgebrochen.
Warum ist Ousman nach Deutschland gekommen? Im Laufe der Zeit habe ich verstanden, dass seine Familie 4.000 Dollar zusammengelegt und ihn auf die Reise geschickt hat, damit er in Deutschland eine Art Brückenkopf bildet. Den Großteil des Geldes hat sein „kleiner Vater“ (Onkel) besorgt; der hat vier Frauen und vierzehn Kinder. Es hat einige Zeit gedauert, bis mir aufgefallen ist: Wenn es Männer mit mehreren Frauen gibt, muss es doch Männer ohne Frauen geben! Was machen die denn? „Gehen nach Europa.“ Das hat mir mindestens einen Zahn gezogen.
Davin hat dieser Tage mit seinem Vater im Iran geskypt. Der ist gläubiger Moslem, aber (?) hat von ihm verlangt: Lies den Koran! Aber akzeptiere nur das, was dich zu einem besseren und friedlicheren Menschen macht! „Und, Davin, was ist wichtiger: Koran oder Grundgesetz?“ „Natürlich das Grundgesetz!“ (Er hat sich eins gekauft.) Es gibt junge Migrant*innen, die in verschiedener Hinsicht eine Bereicherung für unsere Gesellschaft sein werden oder die sich zumindest um Integration bemühen. Und es gibt andere, die keine Belastung sein müssten, aber durch ihr Verhalten eine Belastung sind. Für die gilt, das habe ich ursprünglich anders gesehen, Boris Palmers „Wir können nicht allen helfen“.
* Alle Namen geändert