In einem Brief an Kultusminister Stoch hat die Landesvorsitzenden Doro Moritz auf Grundlage dieser Diskussion die Problemlagen benannt und gefordert, diese ernst zu nehmen und in Maßnahmen zu übersetzen, die die Gemeinschaftsschulen in ihrer weiteren Entwicklung (zu qualitativ hochwertigen Sekundarschulen) nachhaltig unterstützen.
Weiterentwicklung der Gemeinschaftsschulen
Der Arbeitskreis Gemeinschaftsschulen in der GEW Baden-Württemberg ist in einem intensiven Erfahrungsaustausch der Frage nachgegangen, wie die Gemeinschaftsschulen in der Umsetzung ihres anspruchsvollen Auftrags und insbesondere in einer erfolgreichen Verarbeitung der Heterogenität besser unterstützt werden könnten.
Sehr geehrter Herr Stoch,
das Genehmigungsverfahren für die dritte Tranche der Gemeinschaftsschulen steht kurz vor dem Abschluss. Die GEW ist nach wie vor davon überzeugt, dass diese Schulen im Reformprozess für ein zukunftsfähiges Schulwesen in Baden-Württemberg einen entscheidenden Beitrag leisten. Allerdings haben wir stets betont, dass über die Akzeptanz und den Erfolg der Gemeinschaftsschule nicht deren Anzahl, sondern deren Qualität und pädagogische Attraktivität entscheiden wird. Der Arbeitskreis Gemeinschaftsschulen in der GEW Baden-Württemberg ist in einem intensiven Erfahrungsaustausch der Frage nachgegangen, wie die Gemeinschaftsschulen in der Umsetzung ihres anspruchsvollen Auftrags und insbesondere in einer erfolgreichen Verarbeitung der Heterogenität besser unterstützt werden könnten. Wir möchten Sie und das Ministerium bitten, die nachfolgend benannten Problemlagen ernst zu nehmen und in Maßnahmen zu übersetzen, die die Gemeinschaftsschulen in ihrer weiteren Entwicklung (zu qualitativ hochwertigen Sekundarschulen) nachhaltig unterstützen.
Lernentwicklungsgespräche und -berichte
Bei den Lernentwicklungsgesprächen wird der individuelle Lernstand des Kindes mit den Eltern besprochen. Diese Gespräche finden an vielen Schulen vier Mal im Jahr statt. Sie sind sehr wichtig, um die Zusammenarbeit mit den Eltern zu vertiefen. Die Dokumentation der einzelnen Lernfortschritte wird von den jeweiligen Lehrkräften kontinuierlich über das ganze Schuljahr hinweg durchgeführt. Diese Dokumentation ist sehr zeitintensiv, aber für die Lernentwicklungsgespräche unerlässlich.
Die Durchführung dieser beiden sehr zeitintensiven Aufgaben ist nicht in der Arbeitszeit der Lehrkräfte berücksichtigt und wird momentan zusätzlich geleistet. Hier sollte eine Regelung gefunden werden, die die Arbeitsbelastung der Lehrkräfte reduziert.
Jede Schule hat eigene Lernentwicklungsberichte entwickelt. Die Stabsstelle des Ministeriums hat diese aus der Praxis heraus entwickelten Berichte leider nicht aufgegriffen. Stattdessen hat sie selbst Vorlagen für Lernentwicklungsberichte entworfen, die jedoch vor allem von den Starterschulen nicht angewendet wurden.
Coaching-Gespräche
Coaching-Gespräche sind wöchentliche Gespräche mit Schüler/innen, um sie zu unterstützen und um ihnen eine Rückmeldung zu geben. Diese Gespräche finden weithin außerhalb der Unterrichtszeit statt und sind nicht im Deputat verankert. Auch sie führen zu einer deutlichen Mehrbelastung der Lehrkräfte. Selbst wenn die Schulleitung diese Mehrbelastung durch eine Anrechnung honorieren würde, fände dies in der Zuweisung keine Berücksichtigung.
Kompetenzraster, Lernwegelisten und Lernjobs
Jede Gemeinschaftsschule erstellt eigene Kompetenzraster, Lernwegelisten, Lernjobs. Das Erstellen dieser „Materialien“ ist eine sehr zeitaufwändige Entwicklungsarbeit, die für jede nachfolgende Klassenstufe erneut anfällt. Die verwendeten Materialien sind vor ihrem weiteren Einsatz zu evaluieren und zu überarbeiten. Die Gemeinschaftsschulen finden bei dieser Arbeit kaum Unterstützung. Insbesondere sollten die vom Landesinstitut für Schulentwicklung angebotenen Materialien und Hilfen den absehbaren Bedarf der Schulen antizipieren.
Zusätzliche interne Kooperationszeit
Die Gemeinschaftsschule ist auf einen deutlich höheren Umfang der Kooperationszeiten angewiesen, weil alle Lehrkräfte, auch die, die (noch) nicht in ihre Arbeit einbezogen sind, aktiv an der Schulentwicklung teilhaben müssen. Nur so kann der Entwicklungsprozess nachhaltig verstetigt werden. Neu hinzu kommende Lehrkräfte müssen sorgfältig auf die spezifisch anders verlaufenden Arbeitsprozesse vorbereitet werden.
Austausch mit anderen Schulen
An sehr vielen Gemeinschaftsschulen finden regelmäßige Hospitationen vor allem für Schulteams aus Schulen statt, die sich zu Gemeinschaftsschulen entwickeln wollen. Die Vorbereitung der Hospitation, die Präsentation des Schulkonzepts, die Angebote zur Unterrichtshospitation und die Nachbesprechung mit der Besuchergruppe bewirken eine zusätzliche zeitliche Belastung für Schulleitungen und die daran beteiligten Lehrkräfte.
Für die Starterschulen hat die Schulverwaltung „Netzwerktreffen“ (in Bad Wildbad) durchgeführt. Diese waren sehr wichtig und hilfreich für den Erfahrungsaustausch unter den Schulen. Leider wurden diese Veranstaltungen aus Kostengründen nicht mehr fortgeführt. Damit wurde den Gemeinschaftsschulen ein tragendes Forum zu ihrer Stützung und Weiterentwicklung genommen.
Ein Austausch der Gemeinschaftsschulen untereinander könnte durch deren Vernetzung auf Schulamtsebene deutlich besser befördert werden. Unnötiges Konkurrenzdenken könnte dadurch abgebaut werden, eine arbeitsteilige und wechselseitig entlastende Kooperation könnte dadurch entstehen.
Belastungen der Schulleitungen
Schon aus dem bisher Gesagten geht hervor, dass Schulleitungen von Gemeinschaftsschulen einen deutlich höheren Organisationsbedarf zu bewältigen haben als Schulleitungen an den herkömmlichen Schulen. Vor allem die komplexere Infrastruktur und der Pilotcharakter der Schulentwicklung verursachen einen hohen Bedarf an Kommunikation, Beratung und Koordination. In letzter Instanz ist es stets die Schulleitung, die Problemlösungen herbeiführt und Hilfestellungen vermittelt. -
Fortbildungen
Die neue Lernkultur erfordert eine umfangreichere und intensivere Fortbildung der Lehrkräfte. Vor allem ganz- bzw. mehrtägige sowie mehrteilige Fortbildungen, an denen auch Schulteams teilnehmen können, wären ein geeignetes Format. In dieser empfindlichen und pädagogisch anspruchsvollen Entwicklungsphase der Gemeinschaftsschulen wäre es angebracht, die Fortbildung verbindlich und mit Anrechnung in den Lehraufträgen zu verankern.
Erprobung der neuen Bildungspläne
Die Erstellung von Materialien, die zur Erprobung der neuen Bildungspläne benötigt werden, erfordert sehr viel Zeit und Arbeit. Leider muss nach der Erprobung wieder zum alten Bildungsplan der Realschule zurückgekehrt werden – ein nicht komplikationsfreier Übergang, den man während der Erprobungsphase schon hätte besser vorbereiten können.
Hilfreich wäre es auch gewesen, wenn vorausgehende Fortbildungsveranstaltungen und eine rechtzeitige Zuleitung der Erprobungsfassungen eine intensivere Auseinandersetzung mit den Plänen und eine bessere Vorbereitung auf die Erprobung zugelassen hätten.
Status der Lehrkräfte, multiprofessionelle Teams
An der Gemeinschaftsschule sollten/müssen Lehrkräfte aller Schularten unterrichten. Für den Aufbau einer vertrauensvollen Kollegialität ist eine Gleichstellung der Lehrkräfte hinsichtlich der Arbeitszeit, der Besoldung und der Beförderungsmöglichkeiten dringend erforderlich.
Es muss daran erinnert werden, dass die Lehrkräfte zur Erfüllung des Erziehungs- und Bildungsauftrags unbedingt der Unterstützung durch eine in die Schule integrierte Schulsozialarbeit bedürfen und darüber hinaus der durch Pädagogische Assistentinnen und Assistenten, die allerdings nicht auf Kosten der Zuweisung von Lehrkräften angestellt werden sollten. Um der veränderten Lebenssituation vieler Kinder gerecht zu werden, wäre eine dauerhafte Präsenz der schulpsychologischen Beratung unbedingt angezeigt.
Fachberater/innen Schulentwicklung und Prozessbegleitung
Die Fachberater/innen, die die Gemeinschaftsschulen begleiten sollen. verfügen leider über keinerlei spezifische Erfahrungen. Während dieses Manko für die Anfangsphase noch verständlich ist, sollte verstärkt dafür gesorgt werden, dass den Gemeinschaftsschulen eine schulspezifische Beratung und Begleitung zuteil werden kann.
Inklusion
An Gemeinschaftsschulen werden im Vergleich zu anderen Schularten deutlich mehr Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf unterrichtet. Auch wenn die Gemeinschaftsschule konzeptionell beste Voraussetzungen für Inklusion bietet, so kann das auch hier nicht ohne eine entsprechende personelle und fachliche Unterstützung erfolgen.
Insbesondere erfordert das „Zwei–Pädagogen-Prinzip“ eine dauerhafte Hinzuversetzung von sonderpädagogischen Lehrkräften, weil ansonsten eine zielführende Teambildung und eine stabile Kooperation nicht entstehen können.
Fazit
Die Aufzählung der Problemlagen im Detail verdeutlicht, dass Gemeinschaftsschulen keineswegs die mit einer luxuriösen Versorgung verwöhnten Schulen des Landes sind. Vielmehr sind die Rahmenbedingungen, vor allem die Ressourcenausstattung, aber auch die fachliche Begleitung und Unterstützung in höchstem Maße unzureichend und geeignet, den Erfolg dieser Reformschule zu gefährden. Die Kollegien sind vielfach am Rande ihrer Belastbarkeit angekommen.
Die GEW Baden-Württemberg erwartet von der Landesregierung, dass eines ihrer zentralen bildungspolitischen Projekte, welches die Einführung der Gemeinschaftsschule zweifellos ist, hinsichtlich ihrer politischen Unterstützung als solches erkennbar/identifizierbar ist.
Wenn sich diese Rahmenbedingungen zum kommenden Schuljahr nicht deutlich verbessern, erscheint uns eine Genehmigung weiterer Gemeinschaftsschulen außerordentlich fragwürdig.
Mit freundlichen Grüßen
Doro Moritz
Landesvorsitzende der GEW BW