Schulsozialarbeit
Keine Verfügungsmasse der Schule
War Schulsozialarbeit in den Anfangsjahren ein Makel, reißen sich heute Schulen darum. Doch die Qualität konnte nicht Schritt halten. Weder das Schulsystem noch die Jugendhilfe ist gut genug auf eine am Kindeswohl orientierte Kooperation vorbereitet.
Je nach Schulstandort haben 25 bis 40 Prozent der Schüler*innen einen erhöhten Unterstützungsbedarf auf Grund von individuellen Beeinträchtigungen und sozialer Benachteiligung. Zwei bis drei Kinder pro Schulklasse haben statistisch gesehen sexuelle Gewalt erlebt.
Gewalterfahrungen machen Kinder aber nicht nur in der Familie. Jede*r fünfte Schüler*in ist Mobbing ausgesetzt (Pisa-Studie 2018). Fachleute gehen davon aus, dass jede dritte oder vierte Schulklasse davon betroffen ist. Schulleitungen, Lehrkräfte und Eltern sind in der Regel bemüht, dem entgegenzuwirken. In der Regel sind sie jedoch strukturell und personell schlecht aufgestellt, um auf diese Herausforderungen pädagogisch angemessen reagieren zu können. Häufig erkennen sie psychosoziale Problemlagen von Schüler*innen zu spät oder gar nicht. Zudem fehlt es vielerorts an Expertise, um fachlich gut darauf zu reagieren.
Die Bildungs- und Lebenschancen von Kindern in Deutschland sind ungerecht verteilt. Dies birgt erheblichen sozialpolitischen Zündstoff, denn Ungleichheit ist die größte Gefahr für die Demokratie. Nicht umsonst besagt das grundgesetzlich gebotene Sozialstaatsprinzip, dass der Staat für sozialen Ausgleich zu sorgen hat. Er muss allen Kindern ermöglichen – nicht nur den mit Ressourcen gesegneten – sich so zu entwickeln, dass sie selbstverantwortlich ihr Leben gestalten und an der Gesellschaft teilhaben können.
Insofern ist und war es eine gute sozialstaatlich begründete Idee, die Jugendsozialarbeit an den Lebensort Schule zu bringen, um in enger Kooperation mit den pädagogisch verantwortlichen Bezugspersonen für individuell beeinträchtige, sozial benachteiligte Schüler*innen, die in erhöhtem Maße auf Unterstützung angewiesen sind, Hilfen auf den Weg zu bringen. So positioniert kann Schulsozialarbeit segensreich wirken.
Um dies zu ermöglichen, muss die Schule jedoch Voraussetzungen schaffen und die Implementierung von Schulsozialarbeit durch Schulentwicklung begleiten. Dies erfolgt jedoch in der Regel nicht. Schulsozialarbeitende können nicht einfach wie eine neue Lehrkraft eingestellt werden! In der Folge werden Missverständnisse, die auf grundlegenden Unterschieden von Schule und Jugendhilfe beruhen, nicht ausgeräumt. Enttäuschungen begünstigen Spannungen. Die Arbeitszufriedenheit leidet.
Einige der wesentlichen Unterschiede, die zu Missverständnissen führen, sind:
- Schulsozialarbeit hat keinen Erziehungs- und Bildungsauftrag, dieser lässt sich weder von der Schule noch von den Eltern an die Schulsozialarbeit delegieren. Schulsozialarbeit erzieht nicht und leistet keine formelle Bildungsarbeit und assistiert dabei nicht. Sie hilft, fördert und wirkt auf Schutz hin. Der Sozialrechtsexperte Prof. Jan Kepert schreibt in seinem Rechtsgutachten: „Es ist (allerdings) zu betonen, dass die Schulsozialarbeit zuvörderst dem Wohle des jungen Menschen (...) verpflichtet ist. Für die Leistungserbringung ist aber stets ein Antrag des jeweiligen jungen Menschen erforderlich“ Und eben nicht ein Antrag der Schule. Mit ihrem Leistungsangebot kann Schulsozialarbeit den Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule ergänzen. Ergänzen ist aber nicht gleich ersetzen. Die Fachkräfte, die diese Leistungen erbringen, nehmen eine fundamental andere Rolle ein als Lehrkräfte und sind auch nicht deren Assistenz.
- Schulsozialarbeit ist ein am Kindeswohl orientiertes freiwilliges Leistungsangebot der Jugendhilfe, während Lehrkräfte im Zwangskontext mit ihren Schüler*innen arbeiten. Deswegen sollten Schüler*innen von Lehrkräften bei psychosozialen Problemlagen nicht zur Schulsozialarbeit geschickt werden, schon gar nicht ohne Information von deren Eltern.
- Schulsozialarbeit ist verfassungsrechtlich zuvörderst den Eltern eines Kindes verpflichtet. Die Eltern eines Kindes müssen von der Leistungserbringung im Gegensatz zur Schule in Kenntnis gesetzt werden. Die Schule hat kein Informationsrecht. Schulsozialarbeit ist strafrechtlich zur Verschwiegenheit gegenüber der Schule verpflichtet und im Umkehrverhältnis im Übrigen auch.
- Schulsozialarbeiter*innen sind kein schulisches Personal. Schulleitungen haben keine Weisungsbefugnis oder Kontrollrechte. Beide sind Kooperationspartner mit gegenseitigen Kooperationsanliegen. Lehrkräfte können weder Schulsozialarbeit beauftragen noch direkter, expliziter Leistungsempfänger sein. Das soll nicht ausschließen, dass sie implizit von den Leistungen der Schulsozialarbeit profitieren können. Dies wäre sogar wünschenswert.
Diese rechtliche Positionierung ist oftmals Schulleitungen und Lehrkräften bis in höchste Politik- und Verwaltungskreise unbekannt, manchmal auch einfach nicht gut respektiert. Schulsozialarbeit rechtssicher, fachlich legitim zu positionieren, setzt auf allen Seiten Fachwissen und Vermittlungs- und Kooperationskompetenz voraus, die in Fortbildung erworben werden und von Schulentwicklung begleitet werden müsste. Fachfortbildungen zur Positionierung und Auftragsklärung werden jedoch so gut wie nie von Lehrkräften besucht. Ebenso ist dies kein Thema in der Lehrerausbildung.
Beispiele für daraus resultierende Fehlentwicklungen gibt es zuhauf. Einem Schulsozialarbeiter wurde von einem unzufriedenen Lehrerkollegium gesagt: „Wir haben ein Auto bestellt, ein Fahrrad bekommen und dürfen nicht einmal darauf fahren.“ Auslöser war, dass der Schulsozialarbeiter es ablehnte, Unterrichtsausfall zu kompensieren, und auf dem Freiwilligkeitsgebot seiner Leistungen bestand. Der Schule war offensichtlich Zweck und Zugehörigkeit des „bestellten Fahrzeuges“ nicht gegenwärtig. Die Vorstellung, dass eine bei einem Träger angestellte Fachkraft der Schule zur freien Verfügung überlassen wird, ist nicht selten anzutreffen.
Schulen meinen oft, die Deutungshoheit und Definitionsmacht über Bedarfe und Aufgaben der Schulsozialarbeit liege bei ihr. Entsprechend kann dies dazu führen, dass Schulsozialarbeit einem hohen Assimilationsdruck ausgesetzt ist, um Defizite im Bildungsbereich auszugleichen. Daran ändert sich auch nichts, wenn Schulleitungen auf einer persönlichen Ebene wertschätzend mit Fachkräften umgehen. Schulsozialarbeitende geraten systemisch bedingt in Konfliktsituationen, wenn das jeweilige Schulsystem über eine kontinuierliche Schulentwicklung keine guten gemeinsamen Schnittstellen und Verzahnungspraktiken entwickelt. Solange das Prinzip der pädagogischen Freiheit das Lehrkräftehandeln bestimmt, ist die jeweilige Fachkraft der Jugendhilfe in ihrer Hilfe für Kinder auf die zufällige, momentane Passung zu der jeweiligen Schulleitung oder Lehrkraft angewiesen. Ein Schulleitungswechsel kann die Entwicklung der Kooperationsbeziehungen komplett auf den Kopf stellen. Schulsozialarbeit wird so zur Sisyphusarbeit.
Fehlentwicklungen führen paradoxerweise zu Anerkennung
Die Verantwortung für Fehlentwicklungen liegt jedoch nicht nur einseitig bei der Schule. Wenn Schulsozialarbeit sich widerstandslos im Schulsystem fremdpositionieren lässt, erhält sie – sowohl die Fachkraft als auch der Träger – schulische Anerkennung. Sie entwickelt sich so schleichend zu einem pädagogischen Assistenzsystem und gibt ihre eigenständige Rolle gegenüber den Kindern und der Elternschaft auf. Ihre Verankerung im Jugendhilfesystem lockert sich, bis nur noch die Finanzierung ein Indiz für Jugendhilfeleistungen ist. Mit Jugendhilfemitteln wird so der Bildungssektor subventioniert.
Verschließt sich Schulsozialarbeit den Erwartungen der Schule, gerät sie in Gefahr, ihre Legitimation aus Sicht der Schule zu verlieren. Dies ist eine sehr belastende Angst von Schulsozialarbeitenden, insbesondere für Berufsanfänger*innen.
Systembedingt entstehen Spannungen dadurch, dass Schulleitungen und Lehrkräfte oftmals Prinzipien und Gepflogenheiten des Schulsystems auf die Schulsozialarbeit übertragen. Dazu gehören der Zwangskontext durch die Schulpflicht oder dessen Zertifizierungs- und Segregationsaufgaben, sowie die Gepflogenheiten der alltäglich pädagogischen Handlungsweisen in der Konfrontation von Fehlverhalten von Schülerinnen und Schülern oder im Umgang mit vertraulichen Daten von Schüler*innen.
Auch hier üben Schulen oftmals einen Assimilationsdruck aus, teilweise aus Unwissenheit, teilweise auf Grund ihrer Haltung. Geben die Fachkräfte nach, führt dies zur Verwässerung essenzieller Handlungsgrundsätze, wie beispielsweise dem Freiwilligkeitsprinzip.
Auch für die Träger ist dieser Assimilationsdruck eine Herausforderung. Hat sich eine Fachkraft über die Jahre hinweg erst einmal im Schulsystem systemkonform als Assistenz etabliert, ist es selbst für engagierte Dienst- und Fachaufsichten schwierig, jugendhilfekonforme Veränderungen gegen den Widerstand von Fachkraft und Schule anzuregen. Um die Handlungsgrundsätze der Schulsozialarbeit aufrechtzuerhalten, braucht es Supervision, Unterstützungsstrukturen und Fortbildung, sowohl auf Jugendhilfe- als auch auf Schulseite. Das geben die Fördertöpfe zur Finanzierung der Schulsozialarbeit nicht ausreichend her. Hier muss nachgebessert werden, um die Qualität zu gewährleisten.
Solche Fehlentwicklungen werden auch dadurch begünstigt, dass den Trägern der Schulsozialarbeit keine Mittel für die Ausübung der Dienst- und Fachaufsicht bereitgestellt werden. Dies wirkte und wirkt sich qualitätsmindernd aus. Wobei gerade in diesem neuen, anspruchsvollen Arbeitsfeld die Entwicklung innovativer systemischer Konzepte und Kompetenzen gefragt wären. Sie leisten einen wichtigen Beitrag zur notwendigen Verzahnung der Kinder- und Jugendhilfe mit den Aufgaben des Bildungssystems und helfen, dem Assimilationsdruck des Schulsystems standzuhalten.